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Bestimmung - Vorherbestimmung

Posted 6 yrs ago

Bestimmung. Vorherbestimmung, Beschluss Gottes, Verhängnis. I. Idee, Begriff, Wesen und Arten. Die Erschei­nung, dass sich oft Gegenstände im Leben auch ohne unsere Mitwirkung und gegen unsern Willen gestalten, hat den Glauben an eine in der Welt wal­tende unwiderstehliche Naturmacht, bei den Griechen: Schicksalsmacht, bei den Römern: Fatum, hervorgebracht, die über Götter und Menschen herr­sche und jedem im Voraus sein Los be­stimme. Bei den Völkern des Orients herrschte der Glaube, die Geschicke des Menschen werden im Voraus be­stimmt und durch die Sterne angedeu­tet, so dass der gestirnte Himmel das aufgeschlagene Schicksalsbuch des Menschen ist, wo man über Geburt, Charakter und Geschick jedes Einzel­nen Aufschluss erhalten könne. Das Judentum erkennt diesen Schicksals­glauben nicht an; Bibel und Talmud haben nicht einmal eine Benennung für ihn. Die biblische Gottesidee, die Gott in voller Freiheit als Schöpfer und Lei­ter der Naturgesetze darstellt und den Menschen als sittlich freies Wesen er­klärt, steht in vollem Gegensatze zur Annahme eines Fatums, des heidni­schen Glaubens an das Schicksal. Wir hören darüber den Mahnruf des Pro­pheten Jeremia: »So spricht der Ewige, von dem Wandel der Völker lernet nichts und vor den Zeichen des Him­mels ängstigt euch nicht, wenn sich auch die Völker vor ihnen ängstigen.« »Gott allein und nicht die Naturmacht bestimmt, lenkt und leitet ihre Geschi­cke«, ist die den Schicksalsglauben be­kämpfende Lehre der Bibel. »Er spricht und es geschieht; er gebeut und es steht da«; »Von dem Ewigen sind des Men­schen Schritte bestimmt, wie will der Mensch seinen Weg verstehen«; »Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott; er setzte mich zum Vater über Pharao, zum Herrn seines Hauses.« »Bestimmung«, »Vorherbestimmung« im biblischen Sinne ist das von Gott über uns Beschlossene, »Gottesver­hängnis«, das mit dem Glauben an die göttliche Vorsehung, die Weltregierung durch Gott, zusammenhängt. Auch in Betreff des zweiten Punktes, der Stel­lung des Menschen ihr gegenüber, ist die Lehre der Bibel eine andere. Der Mensch vermag der göttlichen Bestim­mung nicht zu entgehen, aber nur so lange er derselbe bleibt, nicht durch Änderung seiner Lebensweise ein an­derer wird. Beim Eintritt der Verände­rung seines inneren und äußeren Le­bens wird auch das Gottesverhängnis gegen ihn wirkungslos, er ist ein ande­rer geworden und das über ihn Ver­hängte hat keine Beziehung mehr auf ihn. Die Bibel hat eine Menge von Bei­spielen, die von der Abwendung des göttlichen Verhängnisses über Men­schen durch Änderung ihrer Gesinnung und Taten erzählen. Der Bestimmungsglaube in diesem Sinne tritt nicht in Widerspruch mit der menschlichen Freiheit, sondern ist mit ihr vereinbar. Der Mensch behält auch gegenüber dem Gottesverhängnisse seine Freiheit; er kann durch Änderung seiner Gesin­nung und seines Wandels dasselbe von sich abwenden. Diese Bibellehre wurde auch später so sehr der Grundzug des Judentums, dass auch die Apokryphen, Josephus und Philo, also die ganze Zwischen- und Nebenliteratur der Bi­bel und des Talmud, keine Abweichung von ihr haben, sie vielmehr bei jeder Gelegenheit mit Nachdruck wiederho­len und einschärfen. Am ausführlichs­ten darüber sind die Aussprüche des Talmud und Midrasch. »Die Gerechten zerstören, was Gott verhängt.«; »Und herrschet über die Fische des Meeres«, d. h. »wenn der Mensch tugendhaft ist, wo nicht, so wird über ihn geherrscht«; »Israel, so es den Willen Gottes ausübt, hat keine Zeichen am Himmel zu fürchten«; »Weder das Böse, noch das Gute kommt von oben, beides sind Folgen unserer Taten«; »Buße, Gebet und Wohltätigkeit wenden jedes böse Verhängnis ab«, sind im Allgemeinen die Sätze, welche obige Bibellehre von der Stellung des Menschen gegenüber dem göttlichen Verhängnisse wieder­holen. Eine weitere Entwicklung dieser Idee haben wir in den Aussprüchen, dass die göttliche Bestimmung sich von vornherein nicht auf Gegenstände er­streckt, die vom Willen des Menschen abhängen, sie tritt also mit der Willensfreiheit desselben gar nicht in Wider­spruch. »Alles«, lehrt R. Chanina (im a. Jahrh. n.) »ist in Gotteshänden, nur nicht die Gottesfurcht«; ferner: »Alles wird über dem Menschen schon vor seiner Schöpfung bestimmt, ob er stark, schwach, arm, reich, klug, töricht, aber nicht ob er gut oder böse, gerecht oder ungerecht sein soll, denn also heißt es: "Siehe, ich lege dir heute vor das Leben und das Gute, der Tod und das Böse, wähle das Leben«"; »Auf dem Wege, den der Mensch gehen will, wird er ge­führt«; »Will der Mensch sich verun­reinigen, wird ihm der Weg frei gehal­ten, sich reinigen, steht man ihm bei.« Neben dieser Bestimmung durch Gott wird auch von der durch die Naturge­setze gesprochen. »Er bestimmt den Wind nach Gewicht, das Wasser nach Maß«, dreierlei, heißt es in Bezug da­rauf, ist des Menschen Beschaffenheit, der eine ist groß an Verstand, der an­dere hat ihn nur klein und der Dritte nur in mittlerem Maße zwischen bei­den, je nach der Gabe, die Gott ihm gespendet. Auch der Erwerb der Got­teslehre geschieht nach diesen Eigen­schaften; der eine erhält dieselben nur für die Bibel, der andere für die Mischna, der Dritte für den Talmud usw. Auf gleiche Weise war die Prophe­tengabe verschieden bei den Propheten: der eine erhielt sie zur Abfassung eines Buches, der andere für zwei Bücher und der Dritte oft nur für zwei Verse usw. Aber auch dieser Bestimmung ge­genüber, behauptet der Talmud, ist der Mensch frei und kann sich über die Gesetze der Naturwendigkeiten erhe­ben. Eine seiner ältesten Lehren darü­ber ist: »Wer ist stark? Der seine Be­gierde besiegt, denn es heißt: >Besser Langmut als ein Held; wer über seinen Willen herrscht ist größer als der Städ­teeroberer.«< Ferner: »Sechs sind zu des Menschen Bedienung, von diesen gibt es drei, die von ihm beherrscht werden und drei, die nicht unter seiner Herr­schaft stehen. Erstere sind: der Mund, die Hand und der Fuß; zu letzteren ge­hören: das Auge, das Ohr und die Nase. Mit dem Auge sieht er, was er nicht will; mit dem Ohr hört er, was er nicht mag und mit der Nase riecht er, was er nicht wünscht. Doch kann der Mensch, so er tugendhaft lebt, sich auch dieser bemächtigen.« Eine andre Lehre darüber ist: »Wasser und Blut gehören zum Lebensprinzip des Men­schen. Betritt der Mensch die Bahn der Tugend, so bleibt alles in gleichem Maße und gleichem Gewicht, das eine wird nicht stärker als das andere, aber sobald er sündigt, geschieht es, dass bald das Blut vom Wasser geschwächt, bald das Wasser durch das Blut gemin­dert wird, und wir haben uns selbst das Verderben zugefügt.« »Gott schuf in dir den bösen Trieb, aber auch die Got­teslehre, Thora, als das Mittel gegen ihn«; ferner: »Gott schuf den Himmel für die Oberen und die Erde für die Unteren, doch geschah es durch Mo­ses, dass die Oberen nach unten, auf Sinai, und die Unteren, die Menschen, nach oben kamen, denn also heißt es: "Und Moses stieg zu Gott auf, und der Ewige ließ sich auf den Berg Sinai herab"; »Gott schied Tag von Nacht und dennoch geschah es, dass Jakob den Tag zur Nacht und Josua die Nacht zum Tage machte.« Eine dritte Art von Bestimmung nennt der Talmud die ge­schichtliche, die sich durch die Ge­schichte vollbringt. In einem Rückblick am Ende jeder bedeutenden Geschichs­epoche erscheint den Lehrern im Tal­mud alles nach einem bestimmten Plane im Voraus geordnet. Ihre Aus­sprüche darüber sind: »Am Anfange der Weltschöpfung bestimmte Gott, wer an die Spitze einer Begebenheit tre­ten soll. So waren Adam zum Ersten der Redlichen, Kain zum Ersten der Mörder, Abel zum Ersten der Gemor­deten, Noach zum Ersten der Gerette­ten usw. bestimmt.« Ferner: »Sechs wurden schon vor ihrer Geburt ge­nannt: Isaak, Ismael, Moses, Salomo, Josiahu und der Messias«; »Adam lag noch in seiner rohen Erdform, aber Gott zeigte schon alle Geschlechter, die von ihm abstammen werden, jedes mit seinen Weisen, Gelehrten, Vorstehern und Führern.« Bestimmt war der Tod für Menschen, darum musste die Schlange kommen und das erste Men­schenpaar zur Sünde reizen; die Sünd­flut sollte kommen, darum war Noach zum Retter geschaffen; Isaaks Augen wurden im Alter dunkel, damit Jakob den Segen empfange; über Jakob war das Exil in Ägypten verhängt, daher musste Joseph im Voraus nach Ägyp­ten verkauft werden, um später der Erhalter seines Vaters und seiner Brü­der zu werden. Aber auch dieser Ge­schichtsbestimmung gegenüber steht der Mensch in seiner vollen Freiheit da, er braucht ihr nicht zu folgen; die Geschichte vollzieht vielmehr ihren Akt, wenn auch diese und jene Männer nicht als die handelnden Persönlich­keiten aufgetreten wären. R. Akiba, ein Lehrer im z. Jahrh. n. lehrt darü­ber: »Israels Erlösung aus Ägypten war bestimmt, auch wenn Moses und Aron nicht gelebt hätten; Israel sollte die Thora empfangen auch ohne Moses und Aron; die Abschnitte über die Richter und Beamten wären in das Ge­setz aufgenommen worden, auch, wenn Jithro nicht die Anregung hierzu gegeben hätte; den Tempel in Jerusa­lem hätte man erbaut, auch ohne Da­vid und Salomo; Israel sollte in den Verfolgungstagen Hamans Rettung fin­den, wenn auch Mordechai und Esther nicht gelebt hätten; Israel wäre dem Götzendienst verfallen, auch ohne die Verführungswerke eines Jerobeams; Je­rusalem sollte zerstört werden, wenn auch Nebukadnezar nicht heraufgezo­gen wäre usw., aber es geschah durch diese Männer, damit die einen den Lohn und die anderen die Strafe erhal­ten sollten.« Die vierte Art der Bestim­mung endlich ist die in Folge der spe­ziellen göttlichen Vorsehung. »Der Mensch verwundet sich nicht am Fin­ger, wenn nicht dasselbe über ihn oben verhängt worden«; »Die Füße des Menschen bürgen für ihn, wohin sie beordert werden, dahin bringen sie ihn«; »Sieben Jahre eine Pest, doch stirbt keiner vor seiner Zeit.« So spre­chen sie von einer Bestimmung der Ehe usw. Ben Asai, ein Lehrer des 1. Jahrh. n. stellt darüber folgenden Satz auf: »Von dem Deinigen wird dir gegeben, nach deinem Namen wirst du genannt, auf deinen Platz setzt man dich, keiner ist bei Gott vergessen und niemand vermag das Bestimmte zu rauben, nicht einer tritt in die Grenze des anderen, nicht einer kann uns aus unserer Stel­lung verdrängen usw.« Im Voraus, so lehren andere, zeigte Gott dem Abra­ham die Geschicke seiner Nachkom­men: Israels Knechtschaft in Ägypten und dessen Erlöser, Moses; den Joseph, der seine Brüder in Ägypten speist, den Josua, der Israel nach Kanaan bringt; den Samuel, der die Könige salbt u. s. w.« Aber auch bei dieser vierten Art der Vorsehungsbestimmung spre­chen sie ausdrücklich von der vollen Freiheit des Menschen und seiner Selbstbestimmung. In einer schönen Allegorie über das Kind im Mutterleibe lehren sie, dass dem Menschen vor der Geburt alles im Voraus gelehrt und ge­zeigt wird, seine Geschicke, der Ort, wo er leben und sterben werde — mit der Mahnung: »Wähle das Los des Ge­rechten, betrachte dich stets unvoll­kommen, nicht von Fehlern frei, kenne die Stätte deines Lebenszieles; Gott ist die Quelle der Reinheit, seine Diener sind rein, auch deine Seele war unbe­fleckt.« Im Allgemeinen lautete die Lehre eines R. Akbia ( i. Jahrh.) darü­ber: »Alles ist von Gott im Voraus ge­schaut, aber die Freiheit wird gelassen, in Güte wird die Welt gerichtet, alles nach der Menge der Taten.« Eine ge­schickte Zusammenfassung dieser Leh­ren haben wir in den Worten Maimo­nides (im 11. Jahrh.), die wir hierher setzen: »Es möge dir nicht einfallen, das zu behaupten, wovon die Toren der Völker und der größte Teil der Ver­nunftlosen in Israel sprechen, Gott be­stimme gleich bei der Schöpfung des Menschen, ob er ein Gerechter oder ein Frevler werden soll. Nicht so ver­hält es sich mit gedachter Bestimmung. Jeder kann ein Gerechter wie Moses, oder ein Frevler gleich Jerobeam wer­den. Jedem ist es anheim gestellt tö­richt, grausam, barmherzig, geizig, freigiebig u. s. w. zu handeln. Niemand ist es, der ihn zwingt über ihn verhängt oder ihn führt zu einem der gedachten Wege, sondern der Mensch ist es selbst, der sich den Weg wählt, den er betritt.« Das ist der Inhalt der Worte des Pro­pheten Jeremias: »Aus dem Munde des Höchsten kommt weder das Böse, noch das Gute.«

II. Weitere Entwicklung, Wichtig­keit und Einfluss. Die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung war mit obigen Erörterungen noch nicht been­det, man stieß noch immer auf Gegen­stände, die mit ihr unvereinbar schie­nen. Nur die Frage über ihr Verhältnis zur menschlichen Freiheit war gelöst, aber noch stand die biblische und nachbiblische Vergeltungs-idee, die verschiedenen Mahnungen in Bibel und Talmud über Selbsttätigkeit und Aufhilfe anderer in Widerspruch mit ihr. Warum die Bestrafung des Frevels, wenn die Tat von Gott vorher bestimmt war? Was nützt oder wie dürfen wir für die Aufhilfe, die Milderung der Not und des Leidens arbeiten, wenn Not und Leiden von Gott über uns und andere verhängt sind? Diese Fragen wurden aufgeworfen und fanden in Folgendem ihre Beantwortung. Die Be­strafung Kains wegen der Ermordung Abels, die des Pharao wegen der Be­drückung der Israeliten in Ägypten, Nebukadnezars wegen der Zerstörung des Tempels usw., sowie andererseits die Belohnung Moses und Aarons für ihre Mühen bei dem Erlösungswerke Israels in Ägypten, Israels für den Emp­fang des Gesetzes, des Mordechai und der Esther für ihre Rettung des israeli­tischen Volkes von den Verfolgungen Hamans fanden statt, wenn auch die Taten derselben schon vorher durch Gott bestimmt waren, weil ersteres die Handlung des Frevlers und letzteres das Werk des Gerechten ist. An unserer Aufhilfe sowie an der unseres Nächs­ten sollen wir arbeiten, damit wir Werke der Tugend üben und das Ver­dienst erlangen, durch Selbsttätigkeit unser Wohl gegründet zu haben. Von den vielen Lehrsätzen darüber bringen wir: »Die Frauen, die da sprechen:

„Unsere Kinder brauchen die Schule nicht zu besuchen, denn wem Gott Ge­lehrsamkeit bestimmt hat, der wird sie schon haben“, irren, denn also heißt es: „Nach Recht soll er ihn belehren, sein Gott wird es ihn wissen lassen“«; »Sind auch diese von Gott zur Armut be­stimmt, so sollen wir doch gegen sie wohltätig sein, damit wir uns dadurch vom Verderben, den Strafen der Hölle retten.« Einen wohltuenden Einfluss hatte der Glaube an die göttliche Be­stimmung in den trüben Tagen der Ver­folgungen, wo man die über Israel ein­brechenden Leiden als ein göttliches Verhängnis betrachtete.