Hillel - Hillel der Babylonier - Hillel der Alte

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Hillel, deutlicher: Hillel der Babylo­nier, auch: Hillel der Alte. Volks- und Gesetzeslehrer, Begründer einer nach ihm genannten Schule, deren Gesetzes­bestimmungen später normativ wur­den, eine höchst würdige Persönlich­keit, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts des jüdischen Staates von Babylonien nach Palästina einwanderte, und daselbst 40 Jahre (von 70 v. bis 10 n.) in Palästina lebte. Seine berühmten Zeitgenossen waren: die Ben Bathyra, Menachem, Samai, Juda ben Bathyra, u. a. m.

I. Geburt, Abstammung, Familie, Lernbegierde, Armut, Studien, Jerusa­lem. Hillel war in Babylonien geboren von Eltern vornehmer Abkunft, die ihr Stammregister bis David hinaufführten. Er war somit ein Spross der königlichen Nachkommen aus dem Hause David, die nach der Einnahme Jerusalems durch die Chaldäer mit den andren Exilanten nach Babylonien gebracht wurden und daselbst jahrhundertelang bei dem jüdischen Volk ein fürstliches Ansehen genossen. Aber nicht dieser Geburtsvorzug war es, der ihm den Weg zu seiner später erreichten hohen Stellung bahnte, die Verehrung der Mit- und Nachwelt zuführte, sondern der Adel seines ganzen Lebens, seines Wirkens und Schaffens. Mit seinem Bruder Schebna verließ er in frühem Alter seine Heimat, um nach Palästina zu reisen, wo ersterer sich dem kom­merziellen Leben widmete, aber letzte­rer das Lehrhaus der Synedrialshäupter Semaja und Abtaljon aufsuchte. Unter drückender Armut lag er dem Geset­zesstudium ob, um sich zum Volks-und Gesetzeslehrer auszubilden. Die Sage hat den Lerneifer Hillels bei sei­ner großen Armut, die ihm die größten Entbehrungen auferlegte, in verschie­denen Dichtungen verherrlicht. Nach denselben verrichtete er zum Erwerb seines Lebensunterhaltes die Arbeit eines Tagelöhners. Täglich verdiente er einen Tropaikon, von dem er die eine Hälfte auf seinen Unterhalt, die andere als Einlassgeld für den Pförtner des Lehrhauses verausgabte. Da traf es sich, dass er eines Tages nichts ver­diente und so den Einlass in das Lehr­haus nicht erlangen konnte. Es war an einem Winter-Freitagabend, die Lern­begierde trieb ihn zum Äußersten. Er erstieg die Fensterbrüstung, klammerte sich daselbst fest und horchte fleißig auf die Lehrvorträge im Inneren des Lehrhauses. In seinem Eifer fühlte er wenig von der Kälte und den auf ihn gefallenen Schneeflocken, die ihn ganz bedeckt hatten. In dieser Stellung brachte er die ganze Nacht zu. Am Morgen bemerkte man ihn daselbst, eilends wurde er herabgeholt, aber er war starr und tot. Es war am Shabbath, trotzdem lautete der Ruf von allen Sei­ten: »Machet Feuer!« »Hillel ist's wert, dass man seinetwegen das Shabbathgesetz übertrete!« Nur mit großer An­strengung vermochte man ihn ins Le­ben zurückzurufen. So studierte er und erwarb sich Kenntnisse auf den ver­schiedenen Gebieten des Wissens. Eine spätere Zeit hat darüber den etwas übertreibenden Ausspruch: »Es gab keine Weisheit, keine Sprache, die er nicht erlernte. Er besaß Kenntnisse, oder wie es wörtlich heißt, er verstand die Sprache von den Bergen, Hügeln und Tälern, den Bäumen und Kräu­tern, von den wilden und zahmen Tie­ren u. a. m.« Diese Bereinigung des profanen Wissens mit dem religiösen war es auch, die seine Schüler, Kinder und Enkel rühmlichst auszeichnete. So ausgebildet suchte er seine Heimat Ba­bylonien wieder auf, von wo er nach einigen Jahren nach Palästina zurück­kehrte, um bald darauf den großen Wirkungskreis als Gesetzeslehrer und Synedrialsvorsitzender anzutreten.

II. Lebensweise, Eigenschaften, Charakter, Haus- und Familienwesen, Wohltätigkeit, Volkssprüche. Die Per­sönlichkeit Hillels war eine wohltuende Erscheinung in der Zeit der allgemei­nen Abspannung und Erschlaffung, die sich nach den blutigen, vergeblichen Kämpfen der Nationalpartei gegen die Gewalttaten Herodes I. der Gemüter bemächtigte. Sein sanftmütiges Wesen mit seinem versöhnenden Wirken zwi­schen der Volks- und Hofpartei glich einem erquickenden Frührotstrahl, der nach der entsetzlichen Nacht herodäi­scher Blutränke einen neuen Trost verheißenden Morgen den geängstigten Herzen zu bringen versprach. Er war das Gegenstück seines späteren Syne­drialskollegen Samai, ein Mann voll Milde und Bescheidenheit, Ausdauer und Friedfertigkeit, mit einer Men­schenliebe und aufopfernden Tätigkeit, wie sie ein Volkslehrer nur besitzen könne. Mit diesen Eigenschaften ver­band er einen scharfen klugen Blick, klare, besonnene Umsicht mit einem tief fühlenden Herzen, alles, was ihn zur richtigen Erkenntnis und Erfassung seiner Zeit befähigte und die Mittel für eine segensreiche Wirksamkeit in der­selben finden ließ. Das jüdische Schrift­tum hat uns mehrere Aussprüche von ihm aufbewahrt, die ihn uns in solchen Eigenschaften zeichnen. »Sei von den Schülern Aharons, liebe den Frieden und eile ihm nach, leibe die Menschen und führe sie der Lehre zu«; »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich, aber so ich für mich allein bin, was bin ich da, wenn nicht jetzt, wann denn!«; »Sondere dich nicht von der Gemeinde ab; halte dich nicht zuverlässig bis den Tag deines Todes und verurteile nicht deinen Nächsten, bis du dich in seiner Lage befindest; halte von keiner Sache, dass sie nicht gehört werde, da sie zu­letzt doch gehört wird; halte auch nicht, wenn ich freie Zeit habe, werde ich lernen, vielleicht wirst du sie nie haben«; »Wer seinen Namen vergrö­ßerst, verliert ihn, wer nicht zunimmt, der nimmt ab, wer nicht lernt, hat den Tod verdient, und wer sich der Krone (als Mittel für niedrige Zwecke) be­dient, kommt um.«; »Weil du ertränkt hast, wurdest du ertränkt, und die dich ertränken werden, werden wieder er­tränkt.« Wir erkennen in diesen Lehr­sprüchen eine Abspiegelung seiner Zeit, der erbitterten Kämpfe der Volkspartei gegen die sich immer wiederholenden Blutränke des herodäischen Königshau­ses und der von ihm eingenommenen vermittelnden mehr versöhnenden Stel­lung zu denselben. Sie bilden gleichsam ein Programm für seine Tätigkeit, von denen die ersten drei gegen die Volks­partei gerichtet sind, aber die letzten zwei auf die Mordpläne Herodes und seiner Räte gegen die letzten Glieder des hasmonäischen Königshauses an­spielen. Die Geschichte hat es verzeich­net, wie diese in den letzen Mahnungen in wahrhaft prophetischem Geiste aus­gesprochenen Drohungen sich tatsäch­lich und wundersam an den herodäi­schen Familiengliedern erfüllt haben. Von den Eigenschaften Hillels wurde seine Demut sprichwörtlich und führte zu manchen Scherzen. »Stets sei der Mensch demütig wie Hillel«, diese Lehre bildet den Anknüpfungspunkt zu folgender Erzählung. Zwei Männer wetteten miteinander um den Preis von 400 Sus, ob Hillel auch in Zorn gera­ten könne. Das Möglichste wurde ver­sucht. Am Freitagnachmittag, Hillel war mit der Vorbereitung auf den Shabbath beschäftigt, trat der eine vor seine Tür und schrie ohne jede Titula­tur: »Hillel da! Hillel da!« Hillel warf schnell seinen Mantel um, eilte hinaus und sprach: »Mein Sohn, was hast du?« Der Mann: »Eine Frage.« Hillel: »Lasse hören.« Der M.: »Warum ha­ben die Babylonier kugelrunde Köpfe? « H.: »Weil sie keine geschickte Heb­amme haben.« Der Mann ging weg, aber kehrte bald zurück und schrie wieder: »Hillel da! Hillel da!« Dieser hüllte sich nochmal in seinen Mantel und eilte hinaus: »Was wünschest du, mein Sohn?« Der Mann: »Eine Frage.« H.: »Und welche?« »Warum haben die Palmyrenser keine Schlitzaugen ?« H.: »Weil sie in Sandsteppen wohnen.« Der Mann entfernte sich, war aber bald wieder vor Hillels Tür und schrie: »Hillel da!« »Hillel da!« Wieder hüllte sich Hillel in seinen Mantel, trat vor ihn und fragte nach seinem Verlangen. Der Mann: »Warum haben die Afrika­ner breite Plattfüße?« H.: »Weil sie in morastigen Gegenden wohnen.« Der Mann fuhr fort: »Ich habe noch mehr zu fragen, aber ich fürchte, du zürnst.« Hillel zog fester seinen Mantel um sich und setzte sich vor ihm hin: »Frage nur«, sprach er. Aber der Manne ent­gegnete: »Du bist Hillel, möchte es keinen deinesgleichen mehr geben!« »Warum?«, fragte dieser. »Weil ich deinetwegen 400 Sus verloren habe.« »Beruhige dich, mein Sohn! Besser, du büßest 400 Sus und noch einmal 400 Sus ein, als dass Hillel seine Geduld verliere.« Wie sich mit dieser Sanftmut seine großartige, durchgreifenden Tä­tigkeit als Synedrialspräsident gegenüber einem Samai, seinem oppositio­nellem Stellvertreter in einer Zeit der heftigsten und blutigsten Kämpfe zwi­schen der Volkspartei und dem herodä­ischen Herrscherhause, bereinigen lasse, darüber belehren uns seine weitern Grundsätze. Wir bringen von densel­ben: »Zur Zeit, da man einsammelt, streue aus, aber wenn man ausstreut, sammle ein; siehst du ein Geschlecht, dem die Lehre lieb ist, streue aus, aber merkst du, dass sie ihm lästig wird, halte zurück«, ferner: »Es kann der leere Mensch nicht sündenscheu sein, der Unwissende nicht fromm; der Schamhafte nicht lernen, der Zornige nicht lehren, — wo es keinen Mann gibt, schicke dich an, ein Mann zu sein.« Eine tiefe Menschenkenntnis spricht sich in diesen Sätzen aus. Er nahm den Menschen, nicht wie er sein soll, son­dern wie er ist; ebenso trug er den Zeit­verhältnissen volle Rechnung und suchte auf sie zu wirken. Der Talmud hat mehrer Beispiele von dieser Wirk­samkeit verzeichnet. Ein Heide kam zu Samai mit der Bitte, ihn ins Judentum aufzunehmen, aber nur mit dem Glau­ben an das schriftliche Gesetz. Er wurde von ihm hart zurückgewiesen. Derselbe suchte Hillel auf und wiederholte bei ihm seine Bitte. »Komm«, rief er ihm freundlich zu, »dass ich dich im schrift­lichen Gesetz unterrichte.« Er lehrte ihn das hebräische Alphabet in ordnungs­gemäßer Reihenfolge. Am andren Tag begann er den Unterricht in entgegen­gesetzter Ordnung. Der Heide wunderte sich darüber und sprach: »Hast du mich doch gestern nicht so unter­richtet!« »Siehst du«, entgegnete ihm dieser, »dass meine mündliche Beleh­rung an dich gestern alles ist, worauf du dich heute stützest, so ist es mit der mündlich überlieferten Lehre, welche die schriftliche ergänzt.« Der Heide fühlte sich überführt und erkannte nun auch die Tradition, das mündlich über­lieferte Gesetz, an. Ein anderes Mal kam wieder ein Heide vor Samai, er möchte ihn ins Judentum aufnehmen, aber er solle ihm die ganze Thora, das Gesetz, in der kurzen Zeit lehren, als er auf einem Fuß stehen könne. Samai ge­riet in Zorn und verjagte ihn mit dem Messstab, den er in der Hand hatte. Der Heide ging zu Hillel und trug ihm obiges Verlangen vor. Dieser sprach zu ihm: »Was dir unlieb ist, füge deinem Nebenmenschen nicht zu, das ist das ganze Gesetz, alles anders ist seine Er­klärung, gehe und lerne.« Wieder suchte ein Heide den Samai auf und bat ihn ins Judentum unter der Bedin­gung aufzunehmen, dass er ihn zum Hohenpriester mache. Samai griff wie­der zornig nach dem Maßstab und ver­jagte ihn. Aber auch dieser stellte sich mit seinem Wunsche bei Hillel ein. Dieser verjagte ihn nicht, sondern sprach zu ihm: »Ein König muss sein Gesetz kennen, so komme und lasse dich darin unterrichten.« Er las mit ihm in dem Gesetz, und als er an die Stelle kam: »Der Fremde, der sich dem Altar nähert, hat den Tod verdient«, fragte er erschrocken: »Auf wen be­ziehe sich das Gesetz?« »Auch auf den König David, wenn er noch lebte und sich dem Altar zur Opferdarbringung nähern würde. « Jetzt erst erkannte er das Törichte seines Verlangens; er war dem Lehrer Hillel dankbar, dass er ihn trotz seines unsinnigen Wunsches ins Judentum aufnahm und eines Besseren belehrt hatte. In diesen schönen Eigen­schaften erglänzte sein ganzes Haus­wesen. Seine Frau, wie er ein Muster von Milde und Wohlwollen. Die Sage hat manche Züge ihrer Milde aufbe­wahrt. Hillel, heißt es, ließ eines Tages von seiner Frau ein Mahl für seinen Gast bereiten. Dasselbe war fertig, aber da trat ein armer Mann zu ihr und klagte seinen Hunger. Sie zögerte nicht, reichte es ihm hin und bereitete für den Mann ein anderes. Als sie damit etwas spät in das Zimmer trat, fragte sie ihr Mann: »Warum heute so spät? « Sie er­zählte den Vorgang und wurde dafür gelobt. So bildete seine Häuslichkeit ein Bild des Friedens und der Ruhe. Als er einst auf der Rückkehr von einer Reise sich seiner Heimat näherte, aber von Ferne ein ängstliches Geschrei ver­nahm, rief er getrost aus: »Das ist nicht aus meinem Hause!« Aus seinem Pri­vatleben wissen wir, dass er auf Rein­heit, tägliches Baden und Waschen, großes Gewicht legte und sie seinen Jüngern als die Erfüllung eines Gottes­gebotes empfahl. »Sehet«, sprach er zu ihnen, »wie man die Reinigung der Statuen und Bilder auf freien Plätzen, in den Theatern und Palästen gerne sieht, sollte der Mensch, als Träger des göttlichen Ebenbilds, nicht das Baden und Waschen seines Leibes als die Voll­ziehung eines Gottesgebotes betrach­ten? « Auf gleiche Weise sprach er von der inneren Reinigung, der täglichen sorgfältigen Pflege der Seele. »Einen Gast habe ich zu Hause, der meiner be­darf, ich muss eilen, ihn zu bewirten! «, wiederholte er täglich seinen Jüngern, als er sie nach beendigtem Lehrvortrage begleitete und sich von ihnen verab­schiedete. Die tägliche Wiederholung dieser Rede fiel ihnen auf, sie fragten: »Was ist das für ein Gast, von dem du täglich sprichst?« »Der Gast«, antwor­tete er, »das ist unsere Seele, die heute in uns ist, aber morgen vielleicht nicht mehr!« Weniger machte ihm die Sorge um die Herbeibringung seines Unter­halts zu schaffen, es genügte ihm, wenn er nur den Bedarf für den nächsten Tag hatte. Sein Spruch dabei war: »Dem Herrn sei Dank Tag für Tag!« Dabei war er höchst wohltätig; es werden von ihm Werke gerühmt, die über die Gren­zen der Wohltätigkeit hinausgehen. So erzählt man: Hillel habe einen verarm­ten Großen dadurch unterstützt, dass er ihm bei seinen Fahrten einen Mann stellte, der zur Bewahrung seines ge­wohnt äußersten Anstandes vor ihm her lief. Als ihm eines Tages das nötige Geld hierzu fehlte, machte er sich selbst auf den Weg und spielte den Vorläufer.

III. Rückreise nach Babylonien, abermaliges Eintreffen in Jerusalem, Ratlosigkeit, Aushilfe, Erhebung zum Synedrialpräsidenten, Lehrtätigkeit, Prinzip, Aufgabe, neue Institutionen, Halacha und Agada. Die Berichte von der Abreise Hillels nach seiner Heimat, Babylonien, und seines späteren Wider­eintreffens in Jerusalem sind durch die neuesten Forschungen zur Gewissheit erhoben. Die Ursache seiner Abreise waren wohl die blutigen Verfolgungen der pharisäischen Gesetzeslehrer, da zu derselben Zeit eine Auswanderung auch anderer Gelehrten stattfand. Erst nach dem Wiedereintritt besserer und ruhigerer Zeiten sehen wir ihn wieder in Jerusalem. Die Ausbreitung seiner Lehrtätigkeit, sowie die Anerkennung der Resultate seiner gemachten Schrift­forschungen als rechtsgültige Hala­choth von Seiten des Synhedrions in Jerusalem werden als die Beweggründe seiner Rückkunft nach Jerusalem ange­geben. Hier fand er bald ein weites Feld für seine Lehrtätigkeit. Zeit und Gele­genheit waren dafür besonders günstig. Nach dem Tode der Synedrialhäupter Semaja und Abtaljon traten die Gelehr­ten Bathyras, gekannt unter dem Na­men »Söhne Bathyras«, an ihre Stelle, Männer von streng pharisäisch-zaddi­kischer Richtung, die von der neuen Gesetzesherleitung aus der Schrift nach der Methode und den exegetischen Re­geln der andern Pharisäer nichts wissen wollten. Nur was wirkliche Tradition war, die alten Halachoth, erkannten sie für vollgültig an. Da kam ein Vorfall zur Erörterung von nicht geringer Wichtigkeit. Der erste Tag des Pessach­festes desselben Jahres fiel auf Sonntag, somit war der Rüsttag an dem Shab­bath vorher, an dem das Pessachopfer dargebracht werden sollte. Die Frage, ob das Pessachopfer dargebracht und das Shabbathgesetz seinetwegen über­treten werden dürfe, gelangte zur Ver­handlung. Die Söhne Bathyras waren unschlüssig, gaben vor, keine Bestim­mung darüber zu kennen. Da richtete man seinen Blick auf den Babylonier Hillel. Während die einen alles von ihm hofften, sprachen die andren: »Was haben wir von dem Babylonier zu erwarten?« Hillel war bereit, ihnen darüber Aufschluss zu geben. Er griff nach seinen exegetischen Regeln, die er zum Teil von seinen Lehrern empfan­gen hatte, und er weis ihnen mit Hilfe derselben aus der Schrift das Erlaubt-sein der Darbringung des Pessachop­fers am Shabbath nach. »Die Darbrin­gung des beständigen Opfers am Morgen und Abend, auch am Shab­bath«, sprach er, »hat das Gesetz er­laubt, nun ist das Pessachopfer gleich diesem ein Gemeindeopfer, hat, wie dieses, in der Gesetzesstelle den Aus­druck >zu seiner Zeit< (4. M. 28. 2.) als Angabe, dass es auch am Shabbath dargebracht werden kann, ja das Pes­sachopfer ist an Heiligkeit noch viel größer, da auf dessen Unterlassung die Ausrottungsstrafe gesetzt wird, das er­gibt«, schloss er, »dass auch die Dar­bringung des Pessachopfers am Shab­bath, gleich der des beständigen Opfers, gestattet sei. « Es sind drei exegetische Regeln, drei Schlüsse, die hier in An­wendung kommen. 1. Der Schluss nach dem Gleichartigen; 2. der des Analo­gen, und 3. der von dem Minderwich­tigen auf das Wichtigere. Aber das half nichts, eine Bestimmung, die durch In­terpretationsregeln hergeleitet wird, wurde von den Söhnen Bathyras nicht anerkannt. Er wurde nach einer be­stimmten Tradition gefragt, aber nicht nach seinen künstlichen Herleitungsge­setzen. Da erinnerte er sich, dass er diese Bestimmung als eine Tradition von seinen Lehrern Semaja und Abtal­jon empfangen habe. Sofort erneuerte er seinen Vortrag und stellte dies Be­stimmung als eine empfangene Tradi­tion auf. Das drang durch, alle wand­ten sich dem kühnen babylonischen Lehrer zu und die Söhne Bathyras tra­ten zurück, legten ihr Amt als Synedri­alshäupter nieder. Das Volk erhob Hil­lel zum Synedrialspräsidenten an ihrer Stelle, er wurde als das Oberhaupt des Synhedrion, mit dem Titel »Nassi«, Fürst, anerkannt. So bestieg Hillel, der arme, nach Palästina eingewanderte babylonische Gesetzesjünger mit einem Male die höchste Würde des gelehrten Standes. Was hat ihm hierzu verholfen? Es galt nicht so sehr seiner Gelehrsam­keit, als vielmehr dem Prinzip, das er vertrat und nach welchem das Volk sich wieder gesehnt hatte. »Ihr habt nicht die Lehrvorträge der beiden Gro­ßen, Semaja und Abtaljon, die unter euch lebten, gehört, darum bedürfen wir Hillels, des Babyloniers!«, soll der Vorwurf an die Söhne Bathyras gelau­tet haben. Wie sehr dieses Auftreten Hillels als eine Wiederaufnahme der von den Synedrialshäuptern Semaja und Abtaljon und ihren Vorgängern vertretenen, aber von den Söhnen Ba­thyras unterdrückten Richtung, deren Gesetzesaussprüche im Volk fortleb­ten, betrachtet wurde, ersehen wir aus folgendem Berichte. Kaum war, heißt es, die Entscheidung Hillels von dem Erlaubtsein der Darbringung des Pes­sachopfers am Shabbath durchgedrun­gen, war man wieder über eine zweite Frage, betreffend das Herbeibringen des Schlachtmessers am Shabbath, in Verlegenheit. Wieder konnte keiner der Synedristen darüber Auskunft geben. Da griff das Volk selbst ein, es steckte, laut der ihm bekannten Bestimmung, das Schlachtmesser unter die Wolle zwischen den Hörnern der Schafe. Hil­lel sah dies und rief: »So habe ichs als Halacha von meinen Lehrern Semaja und Abtaljon erhalten!« Es war die Shabbathfrage, die nach vielen Jahren wieder zur Diskussion kam und heftige Debatten hervorrief. Die alten Parteien gruppierten sich zum neuen Kampfe, der mit dem Siege des Pharisäismus, des aus der Verbindung der Gesetzes-gerechten, Zaddikim, und der From­men, Chassidim, hervorgegangenen neuen Richtung endete. Den ganzen Tag, heißt es, hielt Hillel Vortrag, es halft nichts, man rief ihm zu: »Sagten wir bald, man mache sich von dem Babylonier keine Versprechungen!« Wir kennen die Shabbathfrage, wie sie schon in der makkabäischen Zeit, gleich nach der ersten Erhebung die Gemüter gegen die Chassidäer, die am Shabbath nicht kämpfen wollten, be­wegte und zu dem Beschluss hin­drängte, den Kampf am Shabbath als erlaubt zu halten; ferner wissen wir , dass es in den späteren Kämpfen gegen die Römer Chassidäer gab, die am Shabbath nicht kämpfen wollten. Diese starre, keine Ausnahme kennende, kei­ner Gefahr weichende Aufrechterhal­tung des Gesetzes war die Sache der alten Richtung, der Chassidäer. Dage­gen sprachen sich die Hasmonäer und nach ihnen die Pharisäer für die Sus­pensierung des Gesetzes in Notfällen, also auch der Shabbathverbote, aus. Bekannt sind die Lehren dieser Rich­tung: »Der Shabbath ist euch überwie­sen, aber ihr nicht dem Shabbath.« »Man lebe durch das Gesetz, aber sterbe nicht durch dasselbe«, u. a. m., die als Gründe einer zeitlichen Geset­zessuspension gebraucht wurden. Die Söhne Bathyras waren, nach den ihnen zugeschriebenen Gesetzesentscheidun­gen, Anhänger der älteren Richtung; sie hielten streng an dem Wortlaut des schriftlichen Gesetzes und opponierten gegen jedwede die Zeitverhältnisse be­rücksichtigende Einrichtung und Ge­setzesbestimmung. Ihre Verlegenheit in der Entscheidung, betreffend die Dar­bringung des Pessachopfers, war, weil sie Gegner jeder Suspensierung des Gesetzes waren und nur das neben der Schrift gelten ließen, was als alte Tradi­tion bekannt war. Hillel, der Jünger Semajas und Abtaljons, war Vertreter der jüngeren Richtung, mit dessen Er­wählung der Sturz der älteren mitver­bunden war. Sein Prinzip war, wie das des Pharisäismus überhaupt, das Ge­setz als ein Gesetz des Lebens zu be­trachten; das für das Leben, zur He­bung desselben geschaffen sei. Seine Aufgabe war das Gesetz zum Gesetz des Lebens zu erheben, durch Begrün­dung neuer Institutionen und durch weise Entwicklung des Gesetzes dahin zu wirken, dass dasselbe dem Leben nicht als etwas Abgestorbenes und ihm Entgegengesetztes oder gar ihm Feind­liches erscheine, sondern treu seiner ursprünglichen Bestimmung an der Förderung des Menschenwohls fortar­beite. Mit diesem Lehrprinzip und mit dieser Aufgabe begann er seine große Wirksamkeit. Zu ihrer rechten Würdi­gung wollen wir noch auf eine andre extreme Richtung nach links in dieser Zeit aufmerksam machen, die im Ge­gensatze zu der älteren der Chassidäer dem jüdischen Gesetz gar keine zu be­achtende Berechtigung zuerkannte. Es war dies die der herodäischen Hofpar­tei, der jüdischen vornehmen Römer­linge, die gleich den jüdischen Helle-nisten der vormakkabäischen Zeit das Gesetz als eine das Leben beengende und beschränkende Fessel betrachte­ten, um das sie sich nicht weiter zu kümmern brauchten. So nahmen sie an den Fest- und Trunkgelagen der Römer teil, gaben selbst solche, errichteten Theater und Circusse, ließen Fecht­spiele aufführen und ließen das Gesetz ganz außer Acht. Zwischen diesen zwei extremen Richtungen, ja gegen diesel­ben entfaltete nun Hillel seine Tätig­keit. Die Lehre und das Gesetz, die Thora, die durch die extreme selbst­süchtige Haltung der Parteien benahe in Vergessenheit geriet, erhielt durch ihn ihre Regeneration; sie feierte ihre Auferstehung. So wird Hillel von den späteren Gesetzeslehrern gleich Esra als der Wiederhersteller des Gesetzes, der es in seine belebende, einflussreiche Wirksamkeit wieder einsetzte, gefeiert. Das Leben in allen seinen Lagen und Verhältnissen, die Zeit nach ihren ver­schiedenen Ansprüchen und Bedürfnis­sen sollten in der Lehre und den Geset­zesbestimmungen ihre Berücksichtigung finden. Das Gesetz sollte wieder zum Gesetz des Lebens gemacht werden. Wie ihm dies möglich wurde? Die Aus­legungsgesetze, die er teilweise von sei­nen Lehrern Semaja und Abtaljon empfangen hat, teilweise sie noch durch andere ergänzte, waren die Mit­tel, die ihm halfen die Starrheit des schriftlichen Gesetzes zu brechen, es gefügiger und zugänglicher für das Le­ben darzustellen. Durch dieselben konnte das Gesetz erweitert und aus ihm neue Normen für neue im Gesetze nicht vorhergesehene Fälle aufgestellt werden. So war es ihm möglich den Be­dürfnissen der Zeit Rechnung zu tragen ohne das Gesetz übertreten oder beseitigen zu müssen. Die Gelegenheit für solche Wirksamkeit war bald da. Das erste Jahr nach dem Regierungs­antritt Herodes war bekanntlich ein Shabbathjahr. Das Volk war durch die vielen Gelderpressungen und Missern­ten ganz verarmt und musste zu den Geldmännern um Darlehen seine Zu­flucht nehmen. Aber diese versagten sie ihnen in Betracht des bevorstehenden Shabbathjahres, dessen gesetzliche Be­stimmungen auch den Erlass der Schul­den aussprechen. In dieser Not half Hillel aus, er führte die Institution des Verwahrungsscheins, des Prosbuls, ein, die darin bestand, dass der Gläubiger sich eine gerichtliche Ermächtigung ausstellen ließ, seine Schuld zu jeder Zeit einkassieren zu dürfen. Dieselbe schützte vor Verjährung oder Annullie­rung durch das Shabbathjahr. Eine zweite Verordnung war, wohl auch aus obigen Gründen der eingetretenen Volksverarmung einerseits und der Übernahme der Macht der Begüterten andererseits, dass dem Verkäufer eines Hauses in den ummauerten Städten Rückkaufsrecht für den erhaltenen Verkaufspreis bis nach Ablauf des vol­len Jahres nach geschehenem Verkauf zustehe, er am letzten Tage, wenn er den Besitzer zur Übergabe der Ver­kaufssumme nicht auffinden kann, beim Gericht des Orts diese Rück­kaufssumme nur zu deponieren brau­che, um von seinem verkauften Hause wieder Besitz nehmen zu dürfen. Die Notwendigkeit dieser Maßregel wird dadurch motiviert, dass an solchen Ta­gen die neuen Besitzer, um dem Rück­käufer sein Recht zu annullieren, sich versteckt hielten. Dieser reiht sich eine dritte Verordnung an, die ebenfalls ganz den Stempel dieser Zeit trägt. Dieselbe bestimmt, dass jedes Darlehen von Naturalien nur nach dem Ver­kaufspreis derselben am Tage des ge­schehenen Darlehens, wenn auch die­selben später im Preis gestiegen sind, zurückgegeben werden soll. Eine vierte Maßregel verordnet, dass der Ehekont­rakt, die Kethuba, streng nach seinem Wortlaut zu nehmen sei, um eine Ver­letzung des Ehestandes zu konstatie­ren. Wir übergehen viele andre Institu­tionen, die zwar seinen Namen nicht tragen, aber der Zeit seiner Amtstätig­keit angehören, und bitten dieselben im Artikel »Halacha« nachzulesen. Ob Hillel durch diese und andere ähnliche Gesetze eine Reform des Judentums beabsichtigte, und so als dessen Refor­mator zu betrachten sei? Ich beant­worte diese Frage, wenn man unter »Reform« die Aufhebung des Gesetzes, die Abschaffung von Institutionen ver­steht, dann war Hillel kein Reforma­tor, er hat keine Reform eingeführt. Hillel hat kein Gesetz abgeschafft, keine Institution aufgehoben; er arbei­tete an einem Ausgleich des Gesetzes nach den neuen Zeitverhältnissen, er suchte der Zeit Rechnung zu tragen, ohne mit dem Gesetz zu brechen. Er erhob sich mit voller Entschiedenheit gegen die wieder zur Herrschaft ge­langte ältere Richtung, trat gegen de­ren Gesetzeserschwerungen auf, nahm die Arbeiten des Gesetzesausbaus der jüngeren Richtung seiner Vorgänger wieder auf, führte die in der Schrift niedergelegten Gesetze auf ihre ur­sprüngliche Bedeutung zurück, rief in deren Geiste zeitgemäße Institutionen ins Leben und arbeitete redlich an ei­ner Fortbildung und Entwicklung des Judentums, wie sie von den ersten Has­monäern gegen den Chassidäismus un­ternommen, von den Synedrialhäup­tern bis auf die Söhne Bathyras gegen den sich erhebenden Sadducäismus fortgesetzt wurde, kurz, er kämpfte mit voller Energie gegen jede Veralterung, Verknöcherung und Erstarrung des Ju­dentums und strebte die Lehre und das Gesetz zu einer Lehre und einem Ge­setze des Lebens zu machen nach des­sen ursprünglichen Geiste. In diesen Arbeiten erfreute er sich der Überein­stimmung seines Synhedrions, sicher­lich der Majorität desselben, war ja sein Stellvertreter, der Alterspräsident des Synhedrions, Menachem, ganz sei­ner Richtung. Erst nach dem Ausschei­den des letzteren aus dem Synhedrion, dem bald ein großer Teil der Synedris­ten, Männer der liberalen Richtung, nachgefolgt waren, was eine Bloßstel­lung ihres Herodianismus zur Folge hatte, erhielt das Synhedrion einen konservativen, mehr der älteren Rich­tung sich hinneigenden Charakter, der unserem Hillel viel zu schaffen machte, seinem weiteren Wirken starke Hin­dernisse in den Weg legte. Es wurde Samai, ein Mann von entschiedenem altkonservativem Geiste, der mit un­beugsamer Konsequenz im Sinne der älteren Richtung das Gesetz an sich ohne Rücksicht auf die Zeit und ihre Verhältnisse gehandhabt wissen wollte, an die Stelle des ausgeschiedenen Menachem zum Alterspräsidenten ge­wählt. Derselbe trat bald in offene Op­position gegen Hillel und bekämpfte seine milden Bestimmungen. Samai trat sein Amt an einem Shabbathjahre an. Das Volk war in drückender Not und erlaubte sich diesmal als Ausnahme eine teilweise Bebauung der Äcker. Hatte es hierzu eine Erlaubnis von Hil­lel erwirkt? Die Quellen schweigen darüber. Samai missbilligte in bitterem Ton diese Verfahren und sprach: »Sollte es noch an der Zeit sein, ich würde be­stimmen, dass nicht angebaut werde.« Die Kluft zwischen beiden erweiterte sich immer mehr, so dass später ihre Jünger in zwei förmlich getrennten Schulen unter den Namen: »Haus Hil­lels« und »Haus Samais« sich schieden, die sich über ein halbes Jahrhundert bekämpften und das Judentum in neue Parteiungen zu zerreißen drohten. »In früheren Zeiten«, erzählt ein Berichter­statter, »gab es in Israel keinen Streit (in Gesetzesentscheidungen), nur die Vornahme der Zeremonie des Aufstüt­zens bei den Festopfern hatte eine Di­vergenz der Lehrmeinungen hervorge­rufen, da traten Hillel und Samai ihre Lehrtätigkeit an, und bald waren es vier Gegenstände, über die sie uneinig wurden. Die alte Richtung, welche die Zeremonie des Aufstützens, semicha, am Feste verbot (s. Halacha), wurde wieder von Samai aufs Neue als nicht erlaubt gelehrt, was natürlich Hillel, als Vertreter der jüngeren Richtung, entschieden widersprach. Einen andern viel heftigren Streit bildete die Frage, ob das Wallfahrts-Ganzopfer am Fest dargebracht werden dürfe. Samai ver­neinte es, aber Hillel erlaubte dasselbe. Von den andren Streitdebatten zwi­schen Samai und Hillel werden beson­ders zwei hervorgehoben, wo mit sol­cher Heftigkeit auf Hillel losgestürmt wurde, dass er in einer von seiner Ent­scheidung abzustehen und dem Samai nachzugeben sich genötigt sah, in der andren beim Andrängen des samai­tischen Anhanges sein Vorhaben völlig verleugnete und es rasch aufgab. Die Frage, ob der aus den zur Kelter abge­lösten Weintrauben abgehende Saft gleich andren Flüssigkeiten verunreini­gungsfähig sei, kam zur Verhandlung. Hillel verneinte. Samai aber behaup­tete die Bejahung derselben. Da ent­gegnete Hillel: »Aber warum wird der aus den zur Presse abgelösten Ölbeeren ausfließende Ölsaft nicht verunreini­gungsfähig gehalten?« »Machst du mir viel zu schaffen«, entgegnete er, »so verhänge ich auch über diesen die Ver­unreinigungsfähigkeit.« Die Debatte wurde so heftig, dass man keinem der Synedristen vor Schluss derselben von seinem Platze ließ. Hillel, erzählt man, saß an diesen Tage gefügig vor Samai gleich einem seiner Jünger. Die zweite Debatte betraf die Darbringung eines Festganzopfers am Feste, die, wie be­reits angegeben, einen Streitpunkt zwi­schen Samai und Hillel bildete. Erste­rer verbot dieselbe, aber letzterer. gestattete sie. Hillel brachte an einem Feste ein Rind, das er als Festganzopfer dargebracht haben wollte. Er vollzog bereits die Zeremonie des Händeauf­stützend, da wurde er plötzlich von einem Haufen Samaiten umringt, die ihn wegen seiner Tat hart angingen. Hillel musste sein Vorhaben aufgeben, er änderte seinen Entschluss und be­teuerte den anstürmenden Samaiten, er habe nur ein Festfriedensopfer darbrin­gen wollen. Sie ließen ihn darauf unbe­helligt, aber schon in der nächsten Lehrversammlung sollte über diese Ha­lacha abgestimmt werden. Dieselbe kam wirklich zu Stande, der größte Teil der Gelehrten bestand aus Samai­ten, die auf die Erhebung dieses Verbot zum Gesetz drangen. Da erhob sich unter ihnen der Gelehrte Baba ben Buta, ebenfalls ein Jünger Samais, der unter Hinweisung auf die Verödung des Tempelberges an den Festtagen in Folge des obigen Vorfalls vor einem solchen Beschlusse warnte und erklärte feierlich, dass auch die Tradition mit der hillelitischen Halacha überein­stimme. Das genügte, die Stimmung ward eine andre, und der Beschluss wurde im Sinne Hillels gefasst. Baba ben Buta selbst machte den Anfang mit der Darbringung des Festganzopfers. Er ließ ein Menge von Schafen auf den Tempelberg bringen und rief den An­wesenden zu: »Hier! Wer ein Festganz­opfer bringen will, der nehme eines und vollziehe die Zeremonie des Hän­deaufstützens, wer ein Festfriedensop­fer zu bringen beabsichtige, der komme und bringe es und stütze seine Hände darauf!« Es war dies eine öffentliche Genugtuung für Hillel. Man ersieht daraus, dass Hillel das Volk und einen großen Teil des gelehrten Standes auf seiner Seite hatte, die für ihn in der Not eintraten. Gleiches ergab sich bei dem ersten Vorfalle. Der Berichterstatter er­zählt, dass an demselben Tage, wo Hil­lel auf solchartige Weise zum Nachge­ben gezwungen wurde, das Volk die Annahme sämtlicher Gesetzesbe­schlüsse dieser Sitzung verweigerte, und dieselben sich nur auf den Kreis der Jünger Samais beschränken muss­ten. Von den andren aus freier Über­einstimmung mit Samai hervorgegan­genen Gesetzesbestimmungen hat sich nur eine erhalten, die von der Hände­verunreinigung beim Berühren der hei­ligen Schriften der Bibel. Andere Be­stimmungen, unter dem Namen Hillel, die ohne Einrede Samais genannt wer­den, gehören einer früheren Zeit seiner Lehrtätigkeit an. Wir verweisen über dieselben auf den Artikel »Halacha« und bemerken nur, dass in allen sein obiges Lehrprinzip hervortritt. Auch seine Exegese zeigt überall, dass er mehr dem Geiste als dem Wortlaut der Schrift gefolgt war. Wir gehen jetzt zum zweiten Teil seiner Lehrtätigkeit über, zu seinen Lehrvorträgen fürs Volk, von denen die Agada eine Menge von Lehren, Sprüchen und Gleichnis­sen erhalten hat. Einen großen Teil der­selben über verschiedene Themata ha­ben wir bereits oben genannt, wir lassen hier nur noch als Ergänzung derselben die Übrigen folgen.

a. Gott, Gericht, Opfer, und Versöh­nung. »So einst Gott Gericht halten wird«, lehrte die Schule Samais, »wer­den die Menschen in drei Klassen, der Gerechten, Frevler und Mittleren, vor­treten. Die Gerechten erhalten sofort ihren Lohn, die Frevler ebenfalls so­gleich ihre Strafe, sie sinken in die Hölle, aber mit den Mittleren wird an­ders verfahren, sie werden zur Hölle verdammt, doch sie erheben sich aus derselben allmählich wieder zu Gott empor.« Nicht so, lautete dagegen die Lehre der Schule Hillels, wird es sein. Gott wird in der Eigenschaft: »groß an Huld« gekannt, d. h. er neigt sich mehr der Liebe und Schonung zu, so dass die Mittleren, die zwischen Schuld und Un­schuld stehenden Menschen, auf Gottes Gnade rechnen können und nicht der Strafe anheim fallen werden. Eine an­dere Lehre betraf das Opfer. Das tägli­che Opfer am Morgen und Abend sollte die täglichen Sünden des Volkes ver­söhnen. Geschickt knüpft Hillel die Lehre da-rüber an den hebräischen. Na­men des hierzu bestimmten Opfertieres: Kebes, Lamm, »reinwaschen« andeu­tet, dass das tägliche Opfer die Sünden des Volkes reinwasche.

b. Shabbath und Wochentag. Von Samai wird erzählt dass er schon am ersten Tage das Gute, das ihm zur Hand kam, auf den Shabbath zurücklegte und nicht eher davon genoss, bis er an des­sen Stelle etwas Besseres für den Shab­bath hatte. Sein Spruch dabei war: »Von deinem ersten Shabbathtage (Wochen­tage) auf den Shabbath.« Aber Hillel hatte eine andere Sitte; alle seine Werke (jedes Tages) vollzog er im Hinblick auf Gott! Er hatte zum Spruch: »Gepriesen sei der Herr Tag für Tag!«

c. Nächstenliebe. In der Lehre von ihr erhebt er die Nächstenlieb zum Prinzip des ganzen Gesetzes. Diese Lehre, die wir bereits oben nannten, lautet: »Was dir unlieb ist, tue nicht deinem Nächsten, das ist das ganze Gesetz, das andere leite dir davon ab, gehe und lerne.« Sie ist eine frei popu­läre Übertragung des biblischen Ge­botes der Nächstenliebe: »Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst«, die sich auch in der chaldä­ischen paraphrasierenden Übersetzung des Pseudojonathan zu 3. M. 19. 18. vorfindet. Die negative Fassung dersel­ben ist deshalb gewählt, weil sie zu­gleich die mögliche Erfüllungsweise des im biblischen Gebote angegebenen: »wie dich selbst« ausspricht und das mehr idealistische klingende Gesetz in eine praktischere Form umwandelt. Dieser hillelische Satz findet sich übri­ gens wörtlich in dem apokryphischen Buch Tabias 4. 15. und zeigt von des­sen Verbreitung.

d. Freiheit und Vergeltung. Es ge­hört hierzu seine im Tempelvorhofe am Laubhüttenfeste an das Volk gerichtete Mahnung: »Wenn ich da bin, ist alles da, wenn ich nicht da bin, wer ist da? Wohin ich gehe, führen mich meine Füße.« Auch Gott ruft dem Menschen zu: »So du kommst in mein Haus, komme ich in das Deinige; aber wenn du nicht mein Haus aufsuchst, suche ich nicht das Deinige auf, denn also heißt es: »An jedem Ort, wo ich mei­nen Namen erwähnen lasse, komme ich zu dir und segne dich.«

e. Geselliger Anstand. Zu den oben schon gebrachten Sprüchen nennen wir noch den: »Unter den Nackten nicht in Kleidung; unter den Gekleideten nicht nackt; im Kreise der Stehenden sitze nicht; bei den Sitzenden stehe nicht; unter den Weinenden lache nicht und zwischen den Lachenden weine nicht.« »Ändere nichts von der Sitte der Um­gebung.«

f. Kenntnisse. Die Lehren darüber haben wir schon oben gebracht.

g. Erwerb irdischer und geistiger Schätze. Es hat sich nur ein Spruch von ihm über dieses Thema erhalten, aber tief und wahr in recht volkstümlichen Ton erfasst er den Gegenstand. Derselbe lautet: »Mehr Fleisch, mehr Würmer; mehr Güter, mehr Sorgen; mehr Frauen, mehr Zaubereien; mehr Mägde, mehr Unzucht; mehr Knecht, mehr Raub; aber je mehr Lehre desto mehr Leben; je mehr Schule, desto mehr Weisheit; je mehr Rat, desto mehr Einsicht; je mehr Wohl tun, desto mehr Frieden. Wer ei­nen guten Namen sich erwirbt, hat ihn für sich erworben, wer Lehre sich aneig­net, hat Unsterblichkeit.«

IV. Tod, Würdigung, Zeit seiner Tä­tigkeit, Kinder, Schüler und Schulen. Hillel starb nach einer segensreichen Amtstätigkeit von 40 Jahren, im Alter von 80 Jahren, im 60. Jahre vor der Zerstörung des Tempels (also im 10. Jahre v.). An seinem Sarge klagte man: »Ach, dahin ist der Fromme! Dahin der Bescheidene! Ein Jünger, ein Nach­eiferer Esras! « Er hinterließ einen Sohn Simon, der ihm in das Patriarchat ge­folgt war. Achtzig Jünger, von denen der älteste Jonathan ben Usiel, und der jüngste Jochanan ben Sakai war, emp­fingen seine Lehre und arbeiteten in ihres Meisters Geiste weiter. Eine un­vergleichlich große Würdigung seiner Lehren und Verdienste wurde dem Da­hingegangenen von allen Seiten zuteil. Von dem Proselyten, den er unter Hinweisung auf das Gebot der Nächsten­liebe ins Judentum aufnahm, wird er­zählt, dass er aus Dankbarkeit gegen seinen Bekehrer seine zwei Söhne »Hil­lel und Gamliel« nannte, die allgemein »Proselyten Hillels« hießen. Seine ge­lehrten Zeitgenossen sprachen von ihm: »Er war würdig, des heiligen Geistes teilhaftig zu werden!« »Hillel, in seiner Zeit war die Esra zu seiner Zeit!« Seine Eigenschaften und seine ganze Lebensgeschichte werden als Muster zur Nachahmung aufgestellt. »Stets sei der Mensch bescheiden wie Hillel«; »Durch Hillel werden einst die Armen wegen ihres aus Armut unter­lassenen Thorastudiums vor Gericht gefordert werden.« Als weiteres Ver­dienst wird ihm auch die Ordnung der Mischna zugeschrieben. Im Allgemei­nen hieß es: »Als die Thora in Israel vergessen ward, zog Esra aus Babylo­nien nach Palästina und setzte sie wie­der ein; und als sie später nochmals vergessen ward, kam Hillel, der Baby­lonier, und stellte sie wieder her. «