Mehrheit - Majorität

Posted 6 yrs ago

Die Mehr­heit, die Stimmenmehrheit in Richter­kollegien oder die Mehrheit in Wahr­nehmungen, Lebenserscheinungen und Gewohnheiten in Bezug auf Annah­men, Voraussetzungen und Normen gilt auch im Mosaismus als entschei­dend, die in ungewissen, zweifelhaften Fällen den Ausschlag gibt. Das Gesetz darüber ist in seiner hebräischen Fas­sung dunkel und machte den Auslegern viel zu schaffen; es lautet nach unserer Auffassung in deutscher Übersetzung: »Folge nicht der Mehrheit zum Bösen, mache keine Aussage in einer Streitsa­che derart, dass du nachneigest, dich nach der Mehrheit zu richten (zu beu­gen).« Dieser Ausspruch, der vor Über­griffen der Majorität und vor jeder Be­einflussung durch dieselbe beim Ablegen einer Aussage in Streitsachen warnt, erkennt die Vollgültigkeit der gesetzlichen Majoritätsbeschlüsse und die Verpflichtung, denselben zu folgen, an. Das Gesetz will nur, dass die Mehr­heit in den Fällen, wo sie zweifellos das Böse will oder wo eine Aussage vor Gericht durch die Annahmen der Ma­jorität beeinflusst wird, unbeachtet bleibe; es spricht damit die Dispensa­tion von dieser Verpflichtung in sol­chen Fällen aus. So haben wir hier mit der Anerkennung der Verpflichtung, der Mehrheit in ihren Beschlüssen und Annahmen zu folgen, zugleich ihre Grenzen angegeben, innerhalb derer sie zur Verwirklichung kommen soll. Eine von dieser Gesetzesauffassung ab­weichende Richtung haben die Ha-lacha und die Targumim zu dieser Bi­belstelle. Die Halacha, die zum Nachweis der biblischen Basis ihrer Traditionen den Schriftvers aufsucht, stellt eine andere Deutung unserer obigen Gesetzesstelle auf. Die Verpflich­tung, der Mehrheit in ihren Beschlüs­sen zu folgen, stellt sie als unbeschränkt in ihrem weitesten Umfange zur Befol­gung auf. Der Beschluss der Mehrheit, nachdem er durch Abstimmung festge­stellt und als Gesetz seine Sanktion er­halten hat, ist eine Macht, vor der sich die Minorität beugen soll, dem der Einzelne, auch wenn derselbe ihm als Irrtum und gegen das Schriftgesetz er­scheinen sollte, zu folgen hat. Eine dif­fertierende Meinung wird nur als The­orem, solange sie sich als Lehre bewegt und nicht auf praktische Befolgung Anspruch macht, geduldet, dagegen verbannt, sobald sie zur Praxis über­geht, zur Tat sich verwirklicht. Nur will sie in peinlichen Sachen, Kriminal­fällen, die Mehrheit mit einem Plus von zwei Stimmen gesichert haben, wäh­rend in zivilrechtlichen Entscheidungen die Mehrheit auch nur mit einer Stimme genügt. Sie gibt daher eine andere Auf­fassung obiger Schriftstelle, nach der dieselbe keine Beschränkung der Macht des Majoritätsbeschlusses enthält. Die Schlussworte derselben: »nach der Mehrheit sich zu richten«, betrachtet sie als ein Gebot, überall der Mehrheit sich zu fügen. So werden auf die Frage nach der Begründung der Pflicht, der Mehrheit zu folgen, diese Schlussworte obigen Verses als etwas Selbstverständ­liches zitiert. Ebenso wird der erste Teil des Verses: »Folge nicht der Mehrheit zum Bösen«, als Mahnung erklärt, dass der Ausspruch von »schuldig« in Kriminalfällen bei einer Majorität von ei­ner Stimme keine Gültigkeit habe; es muss hierzu eine Mehrheit von Stim­men sein. Dagegen genügt bei der Frei­sprechung auch in Kriminalfällen die Majorität von nur einer Stimme. Der talmudische Lehrsatz darüber lautet: »Es gleicht nicht die richterliche Ab­stimmung zur Freisprechung (zum Gu­ten) derjenigen zur Verurteilung (zum Bösen); bei jener genügt eine Mehrheit von einer Stimme, dagegen bei letzte­rem bedarf es einer Mehrheit von zwei Stimmen.« Auf gleiche Weise erhält der mittlere Teil des Verses: » mache keine Aussage derart, dass du nachneigest! « die Deutung, dass er die Mahnung ent­hält, bei vorzunehmender Abstimmung vom jüngsten Richter zu beginnen, da­mit derselbe nicht von dem Urteile ei­nes älteren beeinflusst werde, oder ihm zu widersprechen brauche. Die Bedeut­samkeit dieses Gesetzes und die Kämpfe bei der strengen Durchführung dessel­ben zeigten sich erst, als man dessen Bestimmungen in konsequenter Rich­tung auch bei den Abstimmungen in den Synhedrialsitzungen über Ha­lachatr-aditionen zur Geltung zu brin­gen begann. Die Geschichte hat uns darüber manchen Bericht aufbewahrt. Akabja ben Mehalalel, ein Gesetzes­lehrer (etwa sechzig Jahre vor der Zer­störung des Tempels), stieß bei seinen Angaben von vier Traditionen auf hef­tigen Widerspruch bei seinen Kollegen. In einer Synedrialssitzung, wo über di­ese Traditionen abgestimmt wurde, forderte man ihn auf, sich den Majori­tätsbeschlüssen zu fügen und von sei­nen Traditionen abzustehen. Aber Akabja beharrte auf denselben und wollte sich nicht fügen. Man versuchte ihn gütlich von seinem Vorhaben abzu­bringen und zum Aufgeben der betref­fenden Traditionen zu bewegen. Aber alles war vergebens. »Besser«, sprach er, »als Narr vor den Menschen lebens­länglich zu erscheinen, als vor Gott nur eine Stunde lang ein Sünder zu wer­den!« Da wurde der Bann über ihn ver­hängt. Aber auch diese harte Maßregel vermochte ihn nicht zum Aufgeben der empfangenen Traditionen zu bewegen. Dagegen riet er seinem Sohne sich den Majoritätsbeschlüssen des Synhedrions zu fügen und von seinen Traditionen abzustehen. Dieser wunderte sich über diese Äußerung seines Vaters und fragte ihn: »Aber Vater, warum be­harrst du bei denselben und fügst dich nicht der Majorität!« »Mein Sohn«, antwortete er, »ich empfing diese Tra­ditionen aus dem Munde einer Mehr­heit, sie sind für mich bindend; aber du erhieltst dieselben nur von mir, dem ei­nen, gegen den eine Majorität sich er­hebt und sie in Abrede stellt; für dich ist nur der Beschluss der Mehrheit der Lehrer deiner Zeit verpflichtend!« Etwa siebzig Jahre später entwickelte sich derselbe Streit unter dem Patri­archen R. Gamliel II., wo über R. Elieser ben Hyrkanos, der in den Angaben seiner Traditionen sich nicht den Ge­genbeschlüssen der Majorität des Synhedrions fügen wollte, der Bann ver­hängt wurde. R. Gamliel II., der die Vollziehung dieser Maßregel gegen ihn, seinen eigenen Schwager, befahl, äußerte sich, gleichsam sich rechtfer­tigend, darüber: »Herr der Welt! Dir ist es offenbar, dass ich es nicht für meine Ehre, noch für die meines Va­terhauses getan, sondern nur zu dei­ner Ehre, damit sich nicht die Strei­tigkeiten in Israel mehren!« Diese Anerkennung der Autorität und der Macht der Mehrheit übertrug man auch auf andere Gebiete, wo in unge­wissen Fällen entschieden werden sollte. Das Gesetz der Mehrheit, das sich auf Wahrnehmung und Erfah­rung gründete, wurde überall als das allein Bestimmende betrachtet. So spricht man von einer Mehrheit der Kinder, die ohne körperliches Gebre­chen geboren werden; von der Mehr­heit der Frauen, die schwanger wer­den und gebären; von der Mehrheit des Viehes, das in einem Jahre träch­tig wird und wirft; von der Mehrheit bei Kühen, die Milch haben, nachdem sie geworfen hatten; von der Mehr­heit der Schlächter, die Kenner ihres Faches sind usw. Unterschieden wird nur zwischen einer angenommenen, auf Erfahrung oder Wahrnehmung ge­gründeten Mehrheit und einer wirk­lichen uns vorliegenden Mehrheit; der, welche von keiner Handlung abhängt. Eine Ausnahme hiervon macht die Entscheidung in Geldsachen, wo die Mehrheit keinen Ausschlag gibt.