Mischna
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Mischna. Feststellung und weitere Normierung des Gesetzes (der Ha-lacha) sowie das ausgelegte, festgestellte und weiter normierte Gesetz (Halacha) selbst: also der Ausbau des Schriftgesetzes und das durch Tradition und Schriftforschung ausgebaute erweiterte Schriftgesetz.
I. Name und Bedeutung. Der Name »Mischna« ist neuhebräisch, verschieden in seiner Form und seiner Bedeutung von dem biblischen »Mischne« (Lehre), mit dem es nicht verwechselt werden darf. Der Stamm unseres »Mischna« ist »schana« und bedeutet im Neuhebräischen (im Talmud) »Lehren« und »Lernen«, von dem »Lehrer« schonim, »Lehrer der Halacha« schone halachoth heißen. Der Name »Mischna« ist den Wörtern mikra, Verkündigung, Lesestück, Bibel, und midrasch, Forschung, Schriftforschung, gleichgebildet; seine Pluralform ist nicht mischnim, auch nicht mischnijoth, wie viele angeben, sondern mischnajoth = mikraoth und Midraschoth. In dem stammverwandten aramäischen Dialekt heißt »Mischna« »mathnitha« von dem Stamme »תנא « lernen und lehren, so dass auch hier der Name für »Lehrer«, »Halachalehrer«, Tanaim, gleich dem obigen »schonim« ist. Nach der Stammbedeutung in beiden Sprachdialekten bezeichnet »Mischna« nicht wie mehrere annehmen, das zweite Gesetz, etwa das traditionelle Gesetz, sondern die Lehre, die Feststellung und weitere Normierung des Gesetzes der Halacha sowie das ausgelegte, festgestellte und weiter normierte Gesetz, Halacha, selbst wie dasselbe aus der Tradition und der Schriftforschung, Midrasch, hervorgegangen und so den Gesetzesausbau, das erweiterte Schriftgesetz ausmacht. In dieser Bedeutung haben wir die Benennung »Mischna« in ihrem weiteren Sinne von dem in ihrem engeren zu unterscheiden. Im weitern Sinne bezeichnet dieselbe »Halachalehre« oder »Halachamitteilungen« im Allgemeinen. So spricht man von einer älteren und einer jüngeren Mischna, d. h. von einer älteren Halachalehre oder Halachamitteilung und von einer jüngeren, wo gewöhnlich letztere der Ersten als sie aufhebend entgegengestellt wird; ferner von einer Mischna, Halachamitteilung, Halachafeststellung des R. Akiba; des R. Elieser ben Jakob; des Bar Kappara u. a. m.; ebenso von 600 und 700 Mischnaordnungen der Tanaim (Chagiga 14a), worunter man durchaus nicht an eine angelegte größere Mischnasammlung dieses oder jenes Lehrers, als an einen abgerundeten Gesetzeskodex, gleich dem unserer Mischna, zu denken braucht, wenn auch jene diesen nicht ausschließt. Erst in ihrem engeren Sinne bezeichnet »Mischna« die Halachasammlung, als die in sechs Teilen, sedarim, Ordnungen, uns vorliegende, von dem Patriarchen R. Juda I. (190 — 210 n.) redigierte Gesetzessammlung, den Gesetzeskodex.
II. Gestalt, Inhalt, Zusammenstellung, Kodifikation, Einteilung, Ordnung, Hauptteile, Traktate, Abschnitte, Absätze, Aufeinanderfolge und Zusammenhang. Die Mischna in ihrem engeren Sinne, als die große Gesetzeszusammenstellung des Patriarchen R. Juda I., liegt uns in drei verschiedenen, nicht selten an Aufeinanderfolge, auch an Teilen und Inhalt voneinander abweichenden Ausgaben vor: die eine in Verbindung mit dem babylonischen Talmud, die andere im Zusammenhang mit dem jerusalemitischen Talmud, und die dritte unserer, von den obigen Talmuden gesonderten Mischna-Ausgabe, der eigentliche Mischnakodex. Wir handeln hier von der Mischna in ihrer dritten Gestalt, dem uneigentlichen Mischnakodex und werden auf die Abweichungen von demselben in den Texten der anderen oben angegebenen Mischnaausgaben da und dort aufmerksam machen. Dieselbe ist nach ihren Lehrstoffen in sechs Hauptteile, sedarim, Ordnungen, geordnet, welche »die sechs Ordnungen der Mischna« genannt werden und die in ihrer Abkürzung die mnemotechnische Bezeichnung schass geben. Jeder dieser Hauptteile oder jede dieser Mischnaordnungen, se dar, hat zur genaueren Angabe einen besonderen dem Inhalte entlehnten Namen. So heißt die Erste: Seraim, Saaten, die bei dem Landbau zu beachtenden Gesetze; die Zweite: Moed, Festzeit; Gesetze, betreffend die Feste und Festtage; die Dritte: Naschim, Frauen, Ehegesetze; die Vierte: Nesikin, Schäden, Zivil- und Kriminalrechte; die Fünfte: Kodaschim, Weihungen, Opfer- und Weihegesetze; die Sechste: Toharoth, Reinheits- oder Reinigungsbestimmungen. Es zerfällt jeder Hauptteil in mehrere Unterabteilungen, Traktate, Masechtot (singular: massichtha, Gewebe); jeder Traktat, Masechta, in Abschnitte, perakim; jeder Abschnitt, perek, in Absätze, Lehren, Mischnas oder Halachas.
So hat die erste Mischnaordnung Seder seraim, Saaten, elf Traktate, Masech-tot: a. den Traktat Berachoth, Segnungen, über Gebete und Benedeiungen mit neun Abschnitten; b. den Traktat Pea, Feldenden, über die bei der Ernte für die Armen zu lassenden Getreideoder Feldenden, mit acht Abschnitten; c. den Traktat Demai, Ungewisses, betreffend die Früchte, über deren Ver-zehnten man im Ungewissen ist, mit sieben Abschnitten; d. Khilaim, Vermischungen, Mischgattungen, über die Verbote von den vermischten Gattungen bei Pflanzen, Tieren und Kleidungen, mit neun Abschnitten; e. Schebiith, siebentes Jahr, Sabbatjahr, betreffend das Erlassjahr am je siebenten Jahre, mit zehn Abschnitten; f. Therumoth, Heben, über die den Priestern abzugebenden Heben, mit elf Abschnitten; g. Maaseroth, Zehnten, von dem Zehnten an die Leviten, mit fünf Abschnitten; h. Maaser scheni, Zweitzehnten, betreffend den zweiten Zehnten, der in Jerusalem verzehrt werden soll, mit fünf Abschnitten; i. Challah, Teigstück, Abgabe vom Teig an den Priester, mit drei Abschnitten; k. Orlah, Vorhaut, über das Verbot im 3. Mos. 19, 23, betreffend den Genuss von Früchten in den ersten drei Jahren der neu gepflanzten Bäume, mit drei Abschnitten; 1. Biccurim, Erstlinge, betreffend das Gesetz von den Früchteerstlingen, mit vier Abschnitten. Abweichend hiervon ist die Aufeinanderfolge der Traktate dieser Mischnaordnung in der Tosephta, sie stellt folgende Reihenfolge auf: Berachoth, Pea, Demai, Therumoth, Schebiith, Kilaim, Maaseroth, Maaser scheni, Challah, Orlah und Biccurim.
Die zweite Mischnaordnung, seder moed, Festzeit, hat sieben Traktate, Masechtot. Dieselben sind: 1. Shabbath, betreffend die Sabbathfeier, mit vierundzwanzig Abschnitten; 2. Erubin, Vermischung, Vereinigung getrennter Räume, über die Anstalten zur ideellen Aufhebung der Grenzen und Sperren der Wege und Höfe in Bezug auf das Shabbathgesetz z. M. 16. 2.9, mit zehn Abschnitten; 3. Pesachim, über das Pessachfest und Pessachopfer, mit zehn Abschnitten; 4. Schekalim, Sekel, über die nach z. M. 3o. II zu entrichtenden Sekel als Stempelsteuer, mit acht Abschnitten; 5. Joma, Tag, Versöhnungstag, über den Versöhnungstag, mit acht Abschnitten; 6. Sukka, Laubhütte, über das Laubhüttenfest, die Laubhütte und den Feststrauß (Lulab und Ethrog), mit fünf Abschnitten; 7. Beza, Ei, auch: Jom Tob, Festtag, über die Gesetze, betreffend die Feste; 8. Rosch haschana, Jahresanfang, über das Neujahrsfest und die anderen Neujahre, als z.B. der Landwirtschaft, der Königseinsetzung usw., mit vier Abschnitten; 9. Taanith, Fastzeit, Gesetze, betreffend die Fasttage, mit vier Abschnitten; 10. Megilla, Rolle, Bestimmungen über das Vorlesen des Estherbuches und die Feier des Purimfestes, mit vier Abschnitten; 11. Moed Katan, kleine Festzeit, über die Zwischenfeiertage und über die anderen kleinen Feste und Trauerfeier, mit drei Abschnitten; 12. Chagiga, Feier, Festopfer, über die Festopfer und die Wallfahrten zur Feier der Feste in Jerusalem, mit drei Abschnitten. Eine Abweichung von dieser Aufeinanderfolge der Traktate bringen der babylonische Talmud und der jerusalemitische Talmud. Erstere hat: 1. Sabbath; 2. Erubin; 3. Pesachim; 4. Beza; 5. Moed Katan; 6. Chagiga; 7. Rosch haschana; 8. Jorna; 9. Sukka; 10. Taanith; 11. Schekalim, und 12. Megilla. Bei letzterem sind: 1. Sabbath; 2. Erubin; 3. Pesachim; 4. Jorna; 5. Schekabim; 6. Sukka; 7. Rosch haschana; 8. Beza; 9. Taanith; 10. Megilla; 11. Chagiga, und 12. Moed Katan.Die dritte Mischnaordnung Naschim, Frauen, hat sieben Traktate nach folgender Reihenfolge: 1. Jebamoth, Schwägerinnen, von der Schwagerehe, mit sechzehn Abschnitten; 2. Kethuboth, Verschreibungen, Ehepakte und das Eherecht überhaupt, mit dreizehn Abschnitten; 3. Nedarim, Gelübden, mit elf Abschnitten; 4. Nasir, Enthaltsamer, von den Enthaltsamgelübden in 4. M. 6. 1, dem Nasiraat, mit neun Abschnitten; 5. Sota, Abirrende, über die Ehebruchsverdächtigung bei einer Frau nach 4. M. 5. r I, mit neun Abschnitten; 6. Gittin, Scheidebriefe, über Ehescheidungen, Scheidungsurkunden und andere Urkunden, mit neun Abschnitten; 7. Kidduschin, Trauungen, über Verlöbnisse, Eheschließung u.a.m., mit vier Abschnitten. Auch in dieser Mischnaordnung haben wir Abweichungen der oben genannten beiden Talmude zu verzeichnen. Der babylonische Talmud hat die Reihenfolge der Traktate: 1. Jebamoth; 2. Kethuboth; 3. Kidduschin; 4. Gittin; 5. Nedarim; 6. Nasir; 7. Sota. Dagegen zählt der jerusalemitische Talmud: 1. Jebamoth; 2. Sota; 3. Kethuboth; 4. Nedarim; 5. Gittin; 6. Nasir und 7. Kidduschin.
Die vierte Mischnaordnung, Nesikin, Schäden, besteht aus zehn Traktaten: 1. Baba kama, erste Pforte, über Schadenersatz, mit zehn Abschnitten; 2. Baba mezia, mittlere Pforte, über Funde, Aufbewahrungen, Miet- und Leihbestimmungen nach 2. M. 21. 22, mit zehn Abschnitten; 3. Baba bathra, letzte Pforte, über Sach-, Erb- und Urkundenrecht, mit zehn Abschnitten; 4. Sanhedrin, über die Richter, Gerichtshöfe, Kriminalrecht nebst Kriminal-und Zivilprozessordnung, mit elf Abschnitten; 5. Maccoth, Strafen, über den Verbrecher zu verhängende Strafen, Geißelhiebe, Todesstrafe usw. nach 5. M. 25. 2, also ebenfalls Kriminalrecht und Kriminalprozessverfahren, mit drei Abschnitten; 6. Schebuoth, Eide, über gerichtliche und außergerichtliche Eide nebst anderen Prozesssachen, mit acht Abschnitten; 7. Edajoth, Bezeugte Gesetzesbestimmungen, mit acht Abschnitten; 8. Aboda sara, Götzendienst, über den Bilder- und Götzendienst und die mit ihm im Zusammenhang stehenden verbotenen Gegenstände, mit fünf Abschnitten; 9. Aboth, Väter, Sprüche der Väter, mit fünf Abschnitten; 10. Horajoth, Gerichtliche Entscheidungen, mit drei Abschnitten. Im Talmud Jeruschalmi fehlen die Traktate Edajoth und Aboth und im babylonischen Talmud ist die Reihenfolge: Baba kama, Baba mezia, Baba bathra, Aboda sara, Sanhedrin, Schebuoth, Maccoth, Edajoth, Horajoth und Aboth.
Die fünfte Mischnaordnung: Kadoschim, Weihungen, Opfer- und Weihegesetze, besteht aus elf Traktaten nach folgender Reihenfolge: 1. Sebachim, Opfer, über die Opfer und ihre Darbringung, mit vierzehn Abschnitten; 2. Menachtoh, Mehlopfer, von den Speise-und Trankopfern nebst ihrer Darbringung, mit dreizehn Abschnitten; 3. Cholin, Ungeweihtes, Profanes, von den Schlacht- und Speisegesetzen, mit zwölf Abschnitten; 4. Bechoroth, Erstgeburten, von den Gesetzen über die Erstgeburten bei Menschen und Vieh nach 2. M. 13. 2 und 4. M. 18. 17, mit neun Abschnitten; 5. Erachin, Schätzungen, von den Abschätzungen der Gott geweihten Personen, die nach 3. M. 27. 2 ausgewählt werden sollen und anderer auszulösenden Gegenstände, mit neun Abschnitten; 6. The-mura, Vertauschung, über Verwechslung oder Vertauschung der als Opfer geweihten Tiere nach 3. M. 27. 10. 33, mit sieben Abschnitten; 7. Kherithoth, Ausrottungen, von den Strafen der Ausrottung und deren Versöhnungsopfern, mit sechs Abschnitten; 8. Mëila, Veruntreuung, von den Gesetzen über Veruntreuung heiliger Sachen und deren Ersatz nebst Opfer, nach 4. M. 5. 6. 7. 8., mit sechs Abschnitten; 9. Thamid, Beständiges Opfer, von den Bestimmungen über die täglichen, morgens und abends darzubringenden Opfer, nach 2. M. 29. 38 und 4. M. 28. 3, mit sieben Abschnitten; 10. Middoth, Maße, Abmessungen des Tempels und seiner Geräte oder die Beschreibung des Tempels, des Tempelberges und des Vorhofes, auch des Tempelbesuches, Tempeldienste und der Tempelbewachung, mit fünf Abschnitten; 11. Kinnin, Vogelnester, von den Vögelopfern, den Opfern des Armen, mit drei Abschnitten. Im babylonischen Talmud ist diese Reihenfolge: Sebachim, Menachoth, Bechoroth, Cholin, Erachin, Themura, Kherithoth, Mëila, Kinnin, Thamid und Middoth. Wieder eine andere Reihenfolge hat die Tosephta: Cholin, Menachoth, Bechoroth, Era-chin, Themura, Mëila, Kherithoth, Korbanoth (d. i. Sebachim).
Die sechste Mischnaordnung, Toharoth, Reinigung (Verunreinigungen), hat zwölf Traktate: 1. Khelim, Gefäße, von der Verunreinigung der Gefäße, Kleider und anderer Geräte, mit dreißig Abschnitten; 2. Ohaloth, Zelte, von der Verunreinigung der Zelte, Hütten und Häuser durch Leichname nach 4. M. 19. 14, mit achtzehn Abschnitten; 3. Negaim, Aussatz, von der Verunreinigung des Aussatzes am Menschen, an Häusern und Gewändern nach 3. M. 13 und 14 mit vierzehn Abschnitten; 4. Para, Kuh, rote Kuh, von dem Verbrennen der roten Kuh mit dem bei deren Asche zu beachtenden Ritus in ihrem Gebrauche zur Reinigung und Entsündigung nach 4. M. 19 mit zwölf Abschnitten; 5. Toharoth, Reinheiten, eigentlich: Verunreinigungen, von den Objekten der Unreinheiten und der Verunreinigungen miti zehn Abschnitten; 6. Mikwaoth, Wassersammlungen, von den Quell-, Fluss- und Regenwasserbädern zur Reinigung von Menschen und Gefäßen mit zehn Abschnitten; 7. Nidda, Absonderung, von dem an der Menstruation eines Weibes haftenden Verunreinigungen mit zehn Abschnitten; 8. Machschirin, zum Unreinwerden, 6 Kapitel, enthält Bestimmungen über jene Dinge, die geeignet sind, unrein zu machen. 9. Zabim, die mit einem Ünreinen Samenfluß Behafteten, 5 Kapitel, enthält Bestimmungen über den unreinen Samenfluß. 10. Tebul jom, derjenige, der an demselben Tage ein Tauchbad genommen hat, 4 Kapitel, enthält Bestimmungen über denjenigen, der aus Reinheitsgründen ein Tauchbad genommen hat und nun bis zum Sonnenuntergang unrein bleibt. 11. jadajim, Hände, 4 Kapitel, enthält Bestimmungen über die rituelle Unreinheit und Reinigung der Hände. 12. Ukzin, Stiele, 3 Kapitel, enthält Bestimmungen über jene Fälle, bei denen Stiele, Schalen, Kerne und umhüllende Blätter von einer unrein gewordenen Frucht deren Unreinheit übernehmen.
Mehreren Mischnatraktaten werden über den Zusammenhang und die Aufeinanderfolge der Traktate Aufklärungen angegeben. Aber schon der Gaon R. Scherira (im 10. Jahrh. n.) erklärt gegen diese talmudische Angaben, dass der Aufeinanderfolge kein innerer systematisch inhaltlicher Zusammenhang zu Grunde liege, sondern sie eine rein zufällige, äußerliche und völlig lose Zusammenstellung bilde. Indessen waren in den folgenden Jahrhunderten nicht alle Talmudisten mit dieser Erklärung einverstanden. Moses ben Maimon (1135 — 1204) bemüht sich in der Einleitung zu seinem Mischnakommentar innere Gründe für die Aufeinanderfolge der Traktate der Mischnaordnungen aufzusuchen, doch auch er geht in denselben über die talmudischen Angaben für die Aufeinanderfolge hinweg und lässt den Traktat Gittin nach dem von Nasir folgen. Wir schließen uns der Meinung des Gaon Scherira an, aber glauben, dass man bei der Zusammenstellung und Aufeinanderfolge gewissen traditionellen Methoden, wie sie in den Lehrhäusern zur Anwendung gekommen und die Themata zum Vortrag und zur Behandlung aufeinander folgen ließen, gefolgt sei. Was den Inhalt dieses bedeutenden Werkes betrifft, kann dasselbe hier nur kurz angedeutet werden, was bereits oben geschehen ist. Im Allgemeinen bemerken wir, dass die Mischna nicht bloß Halacha, Gesetzeserläuterungen, sondern auch Agada enthält. Es gibt Traktate von nur halachischem Inhalte, andere untermischt von Halacha und Agada, und wieder welche, die nur Agada haben. Die Agada der Mischna zeichnet sich durch Kürze und Deutlichkeit des Ausdrucks, Reinheit des Gedankens aus und hält sich fern von dem grobsinnlichen Anthropomorphismus und dem Wunder- und Geisterglauben späterer Zeit.
III. Geschichte, Abfassung, Redaktion und Würdigung. Die Mischna, wie sie uns heute in ihren sechs Ordnungen (Hauptabteilungen) vorliegt, wird, wie bereits oben angegeben, als ein von dem Patriarchen Juda I. abgefasstes und redigiertes Gesetzsammelwerk bezeichnet. Diese Angabe von der Abfassung der Mischna durch R. Juda I. haben wir nicht so zu verstehen, als wenn sie ihm allein ihre Entstehung und Vollendung zu verdanken gehabt hätte, sondern, dass sie durch ihn teils aus früher angelegten Halachasammlungen, die er revidiert und umgearbeitet hatte, teils aus eigenen veranstalteten Halachasammlungen hervorgegangen und bis auf einige Zusätze späterer Lehrer, ihren Abschluss gefunden. Aus den talmudischen Notizen: a) »Edajoth (der Traktat Edajoth) ist an demselben Tage unter dem Patriarchat R. Gamliels II. zum Abschluss gebracht worden«; b) Gehe zu »Negaim und Ohaloth«! (zu den Traktaten von Negaim und Ohaloth), was als Ruf an R. Akiba von seinen Zeitgenossen gekannt ist; c) R. Jose (im zweiten Jahrhundert n.) lehrte: »Heil dir Khelim (Traktat Khelim), du beginnst mit Satzungen über Unreinheit und endest mit denen von der Reinheit«; d) Mag er uns den Traktat »Okazim« erklären, war die geheime Verabredung unter R. Mair und R. Nathan, wie sie den Patriarchen R. Simon b. Gamliel in Verlegenheit zu setzen gedachten, geht deutlich hervor, dass schon vor dem Patriarchen R. Juda I. Halachasammlungen nach bestimmten Traktaten ähnlich unserer Mischna existierten. Hierzu kommt, dass ausdrücklich ein Teil des vierten Abschnittes in Kidduschin Hillel I. (Jebamoth 37 a), der Traktat »Middoth« dem R. Elieser ben Jakob, der Traktat Tamid dem R. Simon aus Miz-pa, Zeitgenossen des R. Gamliel I. und endlich sämtliche anonymen Mischnas in unserer Mischnasammlung dem R. Mair zugeschrieben werden. Diese Männer, die Halachasammlungen, Mischnas, lange vorher veranstaltet hatten, waren unter anderen: R. Gamliel II., R. Akiba und R. Mair. Von der Tätigkeit des Patriarchen R. Gamliel II. ist bekannt, dass er in Synhedrialsitzungen Zeugnisse über Halachoth aufnehmen und über deren Vollgültigkeit abstimmen und so eine Art Codex anlegen ließ, woraus der schon genannte Traktat hervorgegangen war. Über R. Akiba haben wir die Notiz, dass er zu der Lehre, Halacha, Ringe, Abschnitte machte und sie nach Fächern einteilte. Seine eigene Lehre über den Halachavortrag war: »Man ordne die Halachoth vor ihnen gleich einem gedeckten Tische, denn es heißt: Dir ist es gezeigt worden, um zu erkennen. « Solche von R. Akiba angelegten Halachasammlungen unter dem Namen »Mischna« gedenken außer den Midraschim, auch noch nichtjüdischen Autoren. Der Hauptsatz darüber lautet: »Die anonymen Mischnas sind von R. Mair, die Tosephta von R. Nehenija und sämtliche nach R. Akiba.« Dass solche Mischnasammlungen unter den Zeitgenossen R. Akibas wirklich existierten und oft benutzt wurden, beweist die Mahnung des R. Josua (im 1. Jahrh. n.): »Die Tanaim sind die Zerstörer der Welt, sie entscheiden nach ihrer Mischna.« (Sota 20a, eine Klage, die noch Rabina wiederholt.) Wir haben bereits oben den Ausspruch R. Joses, eines Schülers R. Akibas, über den Traktat Kelim zitiert. Fortgesetzt wurden solche Anlegungen von Halachasammlungen von seinem Schüler R. Mair. Er war der Lehrer des Patriarchen R. Juda I., und seine Halachasammlungen standen bei diesem in solch hohem Ansehen, dass er sie in seine Mischna mit aufnahm, wo dieselben als die Anonymen kennbar und als die des R. Mair von den Späteren bezeichnet wurden. Die Größte, umfassendste und bedeutendste Halachasammlung war die des Patriarchen R. Juda I.. Dieselbe erstreckte sich auf alle Teile der Halacha, nahm in sich fast alle Vorarbeiten seiner Vorgänger und wurde im Gegensatze zu den früheren Sammlungen »Mischna des R. Juda« genannt, die von seinen Schülern und den Späteren als der allein gültige Gesetzescodex gehalten. Es ist die, bis auf einige Zusätze der Späteren, uns heute vorliegende Mischna mit ihren sechs Ordnungen, 6o Traktaten und 523524 Abschnitten, ein unvergleichlich großartiges Schriftwerk des jüdischen Altertums, ein Denkmal des jüdischen Volkslebens in seinem religiösen, staatlichen und sittlichen Wirken und Schaffen, das für die Kenntnis der Religions-Rechts- Staats- und Sittengeschichte des Judentums eine wertvolle Fundgrube bildet, die besser gekannt zu werden verdient. Die Abfassung und Redaktion dieser Mischnasammlung unternahm der Patriarch mit Hilfe der Gelehrten seiner Zeit und nach den ihm vorgelegenen älteren Mischnasammlungen mit der größten Umsicht und Vorsicht. Er forschte und fragte nach der richtigen Leseart vieler Halachoth, schämte sich nicht, oft über die Bedeutung vieler ihm fremden Ausdrücke Erkundigungen einzuholen, nahm, um Missverständnissen und Missdeutungen vorzubeugen, einen großen Teil des Halachoths wörtlich auf, verhandelte mit seinen Kollegen und Schülern bei Meinungsverschiedenheiten über die endliche Schlussfassung des betreffenden Gesetzes, scheute nicht die Mühe, den Gegenstand mehrere al zum Vortrag zu bringen, und unternahm noch im späteren Alter eine abermalige Revision und Verbesserung der in früheren Jahren bereits vollendeten Abfassung der Mischna. Nichtsdestoweniger erlitt der Text dieser Mischnasammlung bei seinen Jüngern manche Veränderungen. Die Jünger des Patriarchen, welche dieselbe weiterverbreiteten, erlaubten sich manche Umstellung im Texte, viel Zusätze zu demselben, welche die Mischna deutlicher machen und sie ergänzen sollten. So war es Levi ben Sissi, der bei Lebzeit des Patriarchen Textkorrekturen in der Mischna vornahm. Dass solches Verfahren oft zu Entstellungen und Sinnverdrehungen des Textes führte, lässt sich wohl denken. Es erhoben sich daher noch zur Zeit missbilligende Stimmen gegen jede Korrektur oder jeden Zusatz zu dem von R. Juda I. redigierten Mischnatexte. Eine andere Frage von Bedeutung ist heute die, ob die Mischna nach ihrer Abfassung und Redaktion durch R. Juda I. niedergeschrieben wurde. Die Beantwortung dieser Frage beschäftigte die jüdischen Gelehrten im Mittelalter und der neuesten Zeit. Der Gaon Sherira (1070) und nach ihm R. Salomo Jizchaki, genannt Raschi (1040 — 1105), Moses de Concy u. a. m. nehmen an in Betracht des Verbots, das mündliche Gesetz niederzuschreiben, dass die Mischna erst später, aber nicht zur Zeit R. Juda I. schriftlich abgefasst wurde. Gegen diese Annahme erklären sich fast sämtliche spanischen Gelehrten: Nissim ben Jakob aus Kairuan (987); Samuel Halevi, der Nagid, in Malaga (1027 —1055); Abraham b. David, Jehuda Ha-levi, Maimonides (im 12. Jahrh.) u. a. m. Uns scheint das Verbot vom Niederschreiben des mündlichen Gesetzes, der Grund der Meinung der ersteren gegen die schriftliche Abfassung der Mischna, erst späteren Ursprungs zu sein, etwa gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts n., als Verwahrung gegen das Christentum, als diese sich an die Stelle des Judentums zu setzten begann und den Übergang dessen Aufgabe auf die Christen durch die Annahme und Anerkennung des Bibelkanons behauptete. Wir entnehmen dies aus folgender Midraschstelle: R. Juda b. S. lehrte: Moses beabsichtigte die Mischna (die Tradition) niederzuschreiben, da schaute Gott im Voraus, dass die Völker die Thora griechisch übersetzen, sie lesen, sich an die Stelle Israels setzen und sprechen werden: »Wir sind Israel, Söhne Gottes!« Er sprach zu Mose: »Du wolltest die Mischna niedergeschrieben haben, welcher Unterschied wäre alsdann zwischen Israel und den Völkern der Welt?« So heißt es auch: »Schrieb ich ihm die Menge meiner Thora, sie würden gleich fremd gehalten werden (Ps. 119)«. Der Erste, der von einem Verbot der Aufzeichnung von Halachoths spricht, ist R. Jochanan (im 3. Jahrh.), und nach ihm war es der Dolmetscher des R. Simon ben Lakisch, der dieses Verbot in der Schrift 2. M. 34. 27: »Schreibe dir diese Worte, denn durch (den Mund) dieser Worte«, angedeutet finden will. Nach anderen rührt dieses Verbot schon aus der Schule des R. Ismael im zweiten Jahrhundert n. her, das in den Ausdrücken: »Schreibe diese (d. h. nur diese) Worte« nachgewiesen wird. Wie sehr R. Jochanan mit diesem Verbot eine Verwahrung gegen die Annahme des Christentums beabsichtigte, ersehen wir aus seinem anderen mit Obigem in Verbindung stehenden Ausspruch: »Gott schloss mit Israel nur wegen der mündlichen Lehre den Bund.« Doch haben die Autoren dieses Verbots es damit von vornherein nicht allzu streng genommen. Beide, R. Jochanan und R. Simon ben Lakisch, besaßen schriftliche Aufzeichnungen der Agada, in denen sie am Shabbath zu lesen pflegten, und entschuldigten ihr Tun damit, dass es besser sei, die gesetzliche Verordnung nicht zu beachten, als die Thora zu vergessen. Dass sie sich diese Ausnahme nicht bloß bei der Aufzeichnung der Agada, sondern auch bei der von den Halachoths gestatteten, ersehen wir aus der talmudischen Stelle daselbst, wo dieses Zitat in Bezug auf Halacha gebracht wird mit der Schlussfolgerung: »Neue Sachen, neue Halachaerörterungen dürfe man aufzeichnen.« Rechnet man hierzu, dass an vielen Stellen Mischna neben Ha-lacha als zwei Gegenstände angeführt werden, so können wir ohne jedes Bedenken mit denen übereinstimmen, welche die schriftliche Aufzeichnung der Mischna durch R. Juda I. vollzogen annehmen. Beweise für die Jugend dieses Verbots haben wir in der Angabe, dass Simon ben Asai, ein Lehrer im Anfange des zweiten Jahrhunderts n. in Jerusalem eine genealogische Schriftrolle gefunden. Älter als diese Rolle ist die Fastenrolle, megillath Taanith, deren schriftliche Abfassung den Lehrern vor der Zerstörung des Tempels zugeschrieben wird. Auch bei den Gaonen herrschte die Meinung, dass das Niederschreiben der Tradition erst von Hillel ab verboten wurde, nachdem dieser die Mischna in sechs Ordnungen abgefasst hatte. Am Ende des zweiten Jahrhunderts n. waren es: R. Chija, Rabh und Samuel, sämtlich Schüler des R. Juda I., die sich mit schriftlichen Abfassungen von Halachasammlungen beschäftigten. Noch Raba (338 — 352 ), das Schuloberhaupt, weiß kein eigentliches Verbot gegen das Niederschreiben der Tradition, sondern rät dagegen, weil sonst das Büchermachen kein Ende nehme. Vielleicht ist obiger Ausspruch R. Jochanans: »Die Schreiber der Halachoths sind gleichsam Verbrenner der Thora« gegen die nach der Abfassung der Mischna vorgenommenen schriftlichen Halachasammlungen, die gegenüber der Mischna als apokryph galten. Es war dies bekanntlich die Tätigkeit der Schüler des R. Juda I., die das Material, aus dem die Mischna hervorgegangen, nicht der Vergessenheit anheim fallen lassen wollten. Von solchen Halachasammlungen haben sich erhalten, wenn auch mit verschiedenen späteren Zusätzen und Umarbeitungen: die Mechilta, die Bücher Sifra und Sifri, die Tosephta und die in den beiden Talmuden zitierten Boraithas, die sich in den oben genannten Schriften nicht vorfinden. Diese Schiller waren: R. Janai, R. Chija, Simon ben Kappara, R. Uschija und Rabh. Wir besitzen in diesem Schrifttum reiche Quellen für das Verständnis und die Erklärung der Mischna, wofür sie schon von den Amoraim in ihren Mischnadiskussionen benutzt wurden. Die Mischna blieb der Mittelpunkt der Gesetzesdiskussion und der Lehrvorträge in den Lehrhäusern; man gewann sie immer lieber wegen ihrer Kürze und Prägnanz und achtete sie hoch. Die Halacha erhielt durch sie einen Abschluss; man betrachtete ihre Aussprüche als Gesetzesnormen, über welche niemand hinausgehen durfte. Die Gesetzeslehrer verhielten sich in ihren Forschungen zur Mischna, wie die älteren Gesetzeslehrer zur Schrift; sie waren von da ab nur die Erklärer, die Ausleger der Mischna und hießen im Gegensatz zu den Tanaim, »Amoraim«, Ausleger, Erklärer der Mischna. Doch empfahl man, besonders in der ersten Zeit, sich auch um die Quellen der Mischna, um die Gesetzesdiskussionen und Gesetzesherbeileitungen zu kümmern, sich auch mit deren Studien zu befassen. Die Mahnung darüber lautete: »Die sich mit der Schrift allein beschäftigen, haben ein gutes Werk, aber auch keins; mit der Mischna, vollführen ein gutes Werk und erhalten ihren Lohn; mit der Gemara d. h. mit den Herleitungen und den Diskussionen des Gesetzes, vollführen die größte Tat, doch eile zur Mischna mehr als zur Gemara.. Diese Lehre, heißt es weiter, wurde in den Tagen des Patriarchen R. Juda I. erst in ihren ersten zwei Teilen vorgetragen, aber, als in Folge derselben die Mischna vernachlässigt wurde und alle sich der Gemara zuwendeten, wurde sie mit ihrem Schlussteil, »Man eile mehr zur Mischna als zur Gemara«, wiederholt. Eine tiefe Würdigung der Mischna haben wir in den Lehrsprüchen des R. Jochanan (im 3. Jahrh. n.): »Wer«, lehrte er, »mir eine Mischna erklärt, dessen Kleider trage ich in das Badehaus.. In einem anderen Satz sagte er: »Bei wem findest du den Kampf für die Thora? Nur bei dem, der viele Mischnas kennt.« Nach einem anderen ist nur derjenige ein Gelehrter, der seine Mischna zu erklären versteht. Ein Dritter dieser Zeit (im 3. Jahrh. n.), R. Sera, hat darüber den Ausspruch: »Alle Tage des Armen sind böse«, das sind die Schriftkundigen, »aber der frohen Herzens ist, hat beständiges Mahl«, d.i. der Mischnagelehrte. Erst bei den Lehrern des vierten Jahrhunderts n. in der Blütezeit der talmudischen Diskussionen stoßen wir auf einige Aussprüche, die der Mischna nicht diese Achtung zollen. So lehrte Raba: »Wer Steine ausreißet schädigt sich«, das ist der Mischnakundige; »aber wer Holz spaltet, gewinnt«, das ist der Gemarist; ferner: »der Weinstock grünt«, das sind die Schriftkundigen; »geöffnet sind die Knospen«, das sind die Mischnakenner; »es blühen die Granaten«, das sind die Gema-risten. Ein Zweiter, der gelehrte Rab Anan, hat darüber: »Die da wandeln auf dem Weg«, das sind die Mischnagelehrten; »auf gebahnten Straßen«, das sind die Talmudisten, »denn alle ihre Erörterungen sind Worte der Thora.« Ein Dritter, Rab Saphra, achtet die drei Hauptzweige: Bibel, Mischna und Talmud gleich; er lehrte, man teile seine Lebensjahre: »Ein Drittteil zur Schrift; ein Drittteil zur Mischna und ein Drittteil zur Gemara.« Von einem Vierten ist die Lehre: »Bereite draußen dein Werk«, d. i. das Schriftstudium; »mache das Feld zurecht«, d. i. das Lernen der Mischna; »und baue das Haus«, d. i. das Studium der Gemara.