Mystik
Posted 5 yrs ago
Mystik, auch: Geheimnisse der Thora.
I. Name, Bedeutung, Begriff, Wesen und Charakteristik. Unter »Mystik« verstehen wir hier die zweite Entwicklungsgestalt der jüdischen Geheimlehre, wie dieselbe in der nachtalmudischen Zeit von 500 n. bis gegen das elfte Jahrhundert n. sich ausgebildet und die jüdischen Gelehrten viel beschäftigt hat. Sie ist das Mittelglied zwischen der talmudischen Geheimlehre und der Kabbala des Mittelalters; sie entspringt aus jener und mündet in diese; alles, was sie hat, entnahm sie derselben und führt es in vielfacher Gestaltung der Kabbala zu. Das Charakteristische ihrer Lehr- und Darstellungsweise macht sich besonders in ihrer Zeichnung des Übernatürlichen, Metaphysischen, geltend. In ihren Lehren von Gott und der Geisterwelt gebraucht sei zur Darstellung des Überweltlichen und Übermenschlichen nicht, wie die griechische Philosophie, die Negation, sondern das Positive in seiner Unermesslichkeit und Ungeheuerlichkeit, was sie durch Zahlen und Darstellungsweise, wie sehr dieselbe in ihrem vorsichtigen, mäßigen Gebrauch nichts Schädliches und Gefahrbringendes für das Judentum zu enthalten scheinen mochte, war es doch gar bald, welche die reinen Lehren der Bibel und des Talmuds von Gott und seinem Wesen entstellte. Die Mystik hat sich, wie dies schon mit Recht der große Maimonides (1135 — 1204) erkannt hat, und dem sich nicht einmal dessen scharfsinniger Kritiker Abraham ben David (gest. 1198) erwehren konnte, in ihren Lehren über Bibel und Talmud erhoben und deren reinen Quell der Gotteslehre verschüttet. Der Anthropomorphismus, der im biblischen Schrifttum als Konzession an die Volksdenk- und sprechweise gebraucht und im Talmud beschränkt zugelassen wird, hat in der Mystik seine weiteste und unbeschränkteste Gestalt erhalten. Fast sämtliche Lehren von Gott, den Geister- und Himmelswesen, der Gottesoffenbarung und der göttlichen Weltregierung, von Messias, der Hölle und dem Paradiese u. a. m., wie sie sich in dem Nebenschrifttum der Bibel, als z. B. im Henochbuch und im 4. Esrabuch u. a. m. vorfinden und die der Talmud als ketzerisch bezeichnet und aus dem Judentum gewiesen hat, sowie die Aussprüche einiger Gesetzeslehrer als z. B. die des R. Akiba und des Simon Sohn Asai u. a. m. über Gott, Engel, Messias usw., die von den anderen Lehrern als mit der reinen biblischen Lehre unvereinbar bekämpft und verworfen wurden, finden wir in den Schriften der Mystik wieder, wo sie un-gescheut entwickelt und dargestellt werden. Es war Babylonien, die Heimstätte der Mystik und ihres Schrifttums, wo das Judentum nicht von dem Sektiererwesen gleich Palästina heimgesucht wurde und man sich der schweren Folgen solcher Geheimlehren weniger bewusst war, um deren Ausbreitung verhindern zu wollen. So konnte die Mystik zensurfrei ohne jedwede Störung an ihrem Bau arbeiten und ihre Lehren unbehindert entwickeln; es sind Auswüchse der talmudischen Geheimlehre; Pflanzen, denen die jätende Hand des Gärtners gefehlt.
II. Thema, Lehren, Schrifttum, Entstellung, Widersprüche mit Bibel und Talmud. Das Thema der Mystik ist, den ganzen Lehrinhalt des Judentums mit allen seinen Anschauungen zu durchdringen und dessen Gesetze und Dogmen zu Bausteinen für ihr System umzugestalten. Gott, Schöpfung, Himmel, Hallen, Gottesthron, Gotteswagen, Merkaba, Engel, Mensch, Israel, Offenbarung, Gesetz, Sünde, Opfer, Tempel, Jerusalem, Versöhnung, Messias, Hölle, Paradies, Auferstehung, Weltgericht, zukünftige Welt u. a. m. sind die Gegenstände, die in den Kreis ihrer Betrachtung gezogen werden. In der Darstellung ihrer Lehren haben wir genau die Kennzeichen anzugeben, wie dieselben sich von denen der talmudischen Geheimlehre unterscheiden und im Widerspruch mit der reinen Bibellehre stehen. Ihr Schrifttum, in dem diese ihre Lehren niedergelegt sind, besteht aus den jüngeren Midraschstücken im Midrasch Rabba und den kleinen Midraschschriften, die vom sechsten bis zum elften Jahrhundert n. abgefasst wurden und die wir hier nach ihrem Inhalt, so weit sie die Lehren der Mystik enthalten, in drei Gruppen zusammenstellen:
a) Die über Gott, Schöpfung, Geisteswelt, Himmeshallen, Gottesthron, Offenbarung und Gesetz. Hierher gehören: 1. die Abschnitte des R. Elieser, Pirke de R. Elieser; 2. das Buch Rasiel; 3. die Buchstaben und das Alphabet des R. Akiba; 4. die Himmelshallen, Hechaltoh; 5. der Thronwagen, Merkaba; 6. das Schöpfungswerk; 7. die Weltgründung; B. der Weisheitsquell; 9. das Henochbuch und das Leben Henochs u. a. m.
b) Die über Israel, Messias und Erlösung. Wir rechnen hierher: 1. den Midrasch Serubabel; 2. den Midrasch Vajoscha; 3. die Zeichen des Messias; 4. das Buch von Eliahu; 5. die Messianischen Abschnitte; 6. die Geheimnisse des R. Simon ben Jochai; 7. Messiassagen u. a. m.
c) Die über Sünde, Vergebung, Vergeltung, Hölle und Paradies: 1. Traktat von Grabesleiden; 2. Traktat von der Hölle; 3. Traktat vom Paradies; 4. Geschichte von R. Josua ben Levi u. a. m. Von den Lehren nennen wir erst die a) über Gott. In derselben überschreitet die Mystik die äußerste Grenze des Anthropomorphismus. Die biblischen Bezeichnungen in »Hand Gottes«, »Füße Gottes«, »Auge Gottes«, »Mund Gottes« usw. und die Aussagen von Gottes Tätigkeit als z. B. Sitzen, Gehen, Sprechen, Zürnen u. a. m. werden gegen die talmudische Auffassung, dieselben nur als bildliche Redeweise nach der Volkssprache zu nehmen, buchstäblich gedeutet und weiter entwickelt. Man kam dahin, Gott nach der menschlichen Körpergestalt darzustellen und vergaß, dass dadurch die jüdische reine Gottesidee zu einer heidnischen, grobsinnlichen verunstaltet wird. Um doch Gott höher als den Menschen zu zeichnen, verirrte man sich zum zweiten Male zu einer sinnlichen Darstellung und fasste das biblische Attribut von Gottes Größe und Erhabenheit nicht, wie der Talmud, in geistigem Sinne, sondern menschlich und leiblich. Man dachte sich die Körperlichkeit Gottes in ungeheuerlicher Ausdehnung und erfand Zahlengrößen für dieselbe, die alles Weltliche übersteigt und für den Menschen unfassbar wird. Es war dies das Geheimnis von der Maßbestimmung Gottes, gegen welches mit Recht Salomo ben Jeruchum, der gelehrte Karäer (885 — 960) in seiner Schrift »Milchamoth« erbittert ankämpft. In den Midraschschriften darüber heißt es: »R. Ismael und R. Akiba wurden auf Gottes Geheiß des Geheimnisses der Maßbestimmung Gottes, Schiur Koma, gewürdigt.« Nach demselben wurde die vermeintliche leibliche Gottesgestalt Glied für Glied gemessen und bestimmt. »236 Myriaden Parasangen, die Parasange zu 1000 x 1000 Ellen, und die Elle zu 4 Spangen und einer Handbreit und die Spange zu 1000 Entfernungen von einem Weltende zum anderen, beträgt die Körperhöhe der Schechina (Gottheit)«, lautet diese mystische Messung Gottes. Es versteht sich, dass diese und ähnliche Versinnlichung der reinen Gottesidee des Judentums bald die Geister auch im Kreise des Rabbinismus zu dessen Bekämpfung und Verweisung weckte. Der Erste unter den Rabbinern, der gegen diese angebliche Maßbestimmung Gottes, gleich nachdem sie bekannt geworden, auftrat, war Saadja Gaon (892 — 942). In seiner Entgegnung auf die Angriffe des oben genannten Karäers Salomo ben Jeruchum sagte er, dass die Lehre vom Schiur Koma sich weder in der Mischna, noch im Talmud befinde und stellt dessen Zitierung im Namen des R. Ismael und R. Akiba als völlig in Abrede, sie sei lügenhaft und erdichtet. Nach ihm sprach gegen diese Mystik Scherira Gaon (930 — 1000): »Unser Schöpfer«, lautet seine Entgegnung darauf, »ist zu erhaben, dass man ihm, behüte Gott dafür, Glieder und Maße zuschreiben sollte.« Viel nachdrucksvoller noch bekämpft sein Sohn Hai Gaon (998 — 1038) diese anthropomorphistische Mystik (Taam. Sekenim S. 54). Man hielt diese ganze Angabe von dem Gottsmaße als eine von den Karäern ins rabbinische Judentum absichtlich zu dessen Schändung verpflanzte Dichtung. Am heftigsten trat gegen sie der große Maimonides auf, dessen treffliche Worte wir im Artikel »Kabbala« nachzulesen bitten.
Eine zweite, das Judentum verdunkelnde Lehre der Mystik ist die b) von den Engeln. Die Engel werden in Bibel und Talmud als von Gott geschaffene und ihm untergeordnete Wesen dargestellt, die in keiner Weise Gottgleichheit haben. Aber die Mystik erhebt den Engel Metatron zu einem zweiten Gott; sie stattet ihn mit dem Gottesnamen aus, lässt ihn andere 92 Gottesnamen führen, und bezeichnet dessen Würde durch die Worte: »Ich (Gott) habe seinen Thron über die Majestät meines Thrones erhoben; seine Herrlichkeit von meiner Herrlichkeit vermehrt usw. «
c) Die Gottesnamen und die Wundertätigkeit mittels derselben. Schon die talmudische Mystik kennt Gottesnamen von 12, 42 und 7z Buchstaben, sowie die Kunst der Zusammensetzung der Buchstaben der Gottesnamen, aber mit welcher Vorsicht wird von dergleichen Sachen gesprochen. »Wer den Namen (von 42 Buchstaben) kennt, ihn in Reinheit bewahrt«, schärft der Lehrer Rabh seinen Jüngern ein, »ist geliebt im Himmel, auf Erden angenehm; bei den Menschen im Ansehen und Erbe beider Welten. « Dagegen spricht die nachtalmudische Mystik von 70 Gottesnamen, die angegeben sind, und andere nicht angegebene, sind, nach ihr, zahllos. Zweiundneunzig sind im Gottesthrone, andere in der göttlichen Krone eingegraben u. a. m. Diese Gottesnamen werden jedoch in dieser Mystik zu ganz anderen Dingen; sie sind die Siegel der Weltordnung und der göttlichen Beschlüsse. Hierin entdeckte weiter die Mystik das Geheimnis der Wundertätigkeit, sodass beim Aussprechen dieser Gottesnamen sich der Himmel mit Feuerflammen füllt usw. Auch gegen diese Ausartung der Mystik kämpften die oben genannten Rabbiner und erklärten solches Gebaren als unjüdisch und für betrügerische Werke, denen man fern bleiben soll. Mehreres siehe »Geheimlehre« und »Kabbala«.