Präsumtion
Posted 6 yrs ago
miggo, chasaka, Voraussetzung, mutmaßliche Annahme, rechtliche Vermutung. In der Rechtslehre versteht man unter »Präsumtion« denjenigen Rechtsbeweis, für welchen die Gründe einer rechtlichen Gewissheit fehlen und der allein auf Voraussetzung, mutmaßlicher Annahme oder rechtlicher Vermutung, also auf Wahrscheinlichkeit, beruht. Es ist der logisch wahrscheinliche Rechtsbeweis im Unterschied zu dem logisch gewissen oder logisch evidenten. Im römischen Recht kennt man zwei Klassen von diesen rechtlichen Vermutungen: a. eine gemeine (praesumtio juris) und b. eine unumstößliche, Gewissheit habende (praesumtio juris et de jure). Dieselben unterscheiden sich darin, dass erstere zwar für einen vollständigen Beweis gilt, aber nicht den Beweis des Gegenteils ausschließt, dagegen lässt letztere nicht den Beweis des Gegenteils zu. Neben diesen zwei spricht man noch von einer dritten Klasse, (nämlich praesumtiones hominis), ebenfalls gemeine Vermutungen, die auch auf Wahrscheinlichkeit beruhen, aber vom Gesetz nicht sanktioniert werden, sondern nur als Beweisgrund mit verwendet werden können. Das mosaische Gesetz oder vielmehr die ganze heilige Schrift kennt keinen Rechtsbeweis aufgrund von Voraussetzung und rechtlicher Mutmaßung. Nur aufgrund der Aussage zweier Zeugen soll entschieden werden. Erst von den Gesetzeslehren der talmudischen Zeit wurde derselbe als in mehreren Schriftgesetzen implicite oder involviert aufgefunden und für alle Teile des Gesetzes geltend gemacht. In geringen Unterschieden findet er sowohl in Zivil- und Kriminalgesetzen, als auch in denen des Kultus seine Verwendung. Ob dieser Rechtsbeweis von den jüdischen Gesetzeslehrern selbst aufgefunden und aufgestellt wurde, oder von außen (von Griechen und Römern) ins Judentum eingedrungen war, ist eine Frage, deren Beantwortung wir uns für den Artikel »Recht«, wo über die Entwicklung des Rechts bei den Juden gesprochen wird, vorbehalten. Aber den Unterschied in der Behandlung und in der Erachtung seiner Zulässigkeit, kurz in der Werthaltung desselben, müssen wir schon jetzt hervorheben. Im römischen Recht wird der Beweis in der oben angegebenen dritten Klasse des Voraussetzungsbeweises, des praesumtio hominis, als kein selbstständiger Rechtsbeweis anerkannt, er darf nur bei anderen Beweisen mitangeführt werden. Eine solche Beschränkung kennen die Talmudlehrer nicht, die überhaupt diesen Unterschied gar nicht machen. Auch die praesumtio des Besitzes steht im römischen Recht nur auf schwachen Füßen. Hat der Kläger gegen den Besitzer, den er von seinem Besitze verdrängen will, den Grund seiner Klage bewiesen, so steht der Beklagte dem Kläger ganz gleich und er muss, obgleich er der Besitzende ist, den Einwand gegen ihn beweisen. Überhaupt kann der ganze Besitz durch geringe Wahrscheinlichkeit aufgehoben werden. Dagegen ist im talmudischen Recht die Präsumtion des Besitzes so stark, dass sie nur durch einen evidenten Gegenbeweis vernichtet werden kann. Man fürchtet, im römischen Recht durch den Gebrauch der Präsumtion dem Richter zu viel Macht eingeräumt zu haben, die in Missbrauch, Willkür und Despotie ausarten könnte; daher ließ man die praesumtio hominis, als die subjektive Voraussetzung oder Annahme, gar nicht aufkommen und hat ausdrücklich bestimmt, dass des spezielle Rechtsfall mit dem im Gesetzbuch verzeichneten identisch sein muß. Alles dies mag in Bezug auf Rom, wo in der Kaiserzeit die Bestechlichkeit gar weite Ausdehnung gewonnen hat, gerechtfertigt erscheinen. Aber anders war es innerhalb der jüdischen Gemeinden. Der Richter war kein politischer oder nur weltlicher Beamter, sondern zugleich auch das religiöse Oberhaupt der Gemeinde, er sprach Recht nicht im Namen des weltlichen Staates oder des weltlichen Königs, sondern im Namen Gottes; es war alles Religion, auch der Richterspruch ein religiöses Gesetz; eine Verdrehung des Rechts seitens des Richters war ein Frevel gegen das göttliche Gesetz, gegen die Religion. Das gewährte den Parteien Vertrauen und sicherte gewissermaßen eine rechtliche Entscheidung ihrer Streitsache. So hat im Judentum das religiöse Moment die Furcht der Despotie oder der Willkür des Richters verscheucht und den rechtlichen Gebrauch des Präsumtionsbeweises in allen seinen Gestalten vor etwaiger, frevlerischer Beeinflussung von außen gesichert. Man hatte nur den Irrtum zu befürchten, und diesem wurde durch Aufstellung von allgemeinen Regeln, nach denen der Richter die einzelnen Fälle zu entscheiden hat, möglichst vorgebeugt. »Jede Präsumtion muss in sich ihre Begründung haben« war die Grundlage der talmudischen Präsumtionstheorie zum Unterschiede von der des römischen Rechts, die eine Übereinstimmung mit einem Rechtsfall im Gesetzbuch haben musste. Wir gehen jetzt an die Sache selbst, zur Darstellung der Präsumtionstheorien im talmudischen Schrifttum und wollen dass bisher Angegebene durch Beispiele erläutern. Die Präsumtionen kommen da unter fünf Benennungen vor, die gleichsam fünf Klassen derselben bilden. Dieselben sind: 1. die Präsumtion des Festhaltens des früheren, bisherigen Verhältnisses oder der festen Annahme. Chasaka, Festhalten eines Zustandes, Besitzes, oder Festsein, Begründetsein gegenüber den Ansprüchen eines Anderen; auch Dafürhalten, Annehmen, besser: Festsein, Feststehen, es steht fest, es ist fest, also feste Annahme; 2. die Präsumtion des besseren Einwandes, Miggo, »dadurch«, »aus dem Grunde«, weil, in Folge, dass der Beklagte einen besseren Einwand hätte vorbringen können; 3. die Präsumtione der Mehrheitsfälle, Rob, Ruba oder Roba, Mehrheit, Mehrheitsfälle; 4. die Präsumtion der Nähe, Karob, Nähe, Ortsnähe und 5. die Präsumtion des Doppelzweifels, saphek sepheka, Doppelzweifel. 1. Die Präsumtion des Festhaltens und der festen Annahme, chasaka. Die Bedeutung ihres hebräischen Namens »chasaka« haben wir oben angegeben; er bezeichnet das Festhalten an einem bisherigen Besitze oder Verhältnisse, als auch das Dafürhalten, die Annahme oder die Folgerung und gibt zugleich die zwei Hauptarten dieser Präsumtion an, von denen, zur Verdeutlichung ihres Unterschiedes, erstere die Präsumtion des Besitzes, oder der Sache, chasaka demamona, auch der Person chasaka degupha und letztere die Präsumtion der alleinigen Meinung, der bloßen Vermutung, heißt. Die Präsumtion des Besitzes von Häusern, und Immobilien überhaupt, kann nur geltend gemacht werden, wenn dieselben drei Jahre ununterbrochen in den Händen des angeblichen Besitzers gewesen, ohne dass jemand dagegen Einspruch erhoben hat. Als Grund hierzu wird angegeben, weil der Käufer den Kaufbrief oder die Schenkungsurkunde nicht länger als drei Jahre verwahrt. Dagegen tritt bei beweglichen Sachen die Präsumtion mit dem Augenblicke ein, wo dieselben in die Gewalt des Käufers gelangt sind. Diesen Präsumtionen wird gleichsam eine Gewissheit zugeschrieben, dass man keinen Anstand nahm, sie auch in peinlichen Fällen geltend zu machen und in Folge derselben Strafen (die Geißel- und Todesstrafe) über den Inkriminierten zu verhängen. Ihr Grundgedanke ist: »Eine Gewissheit kann nur durch eine andere ihr gegenüberstehende, sie verneinende Gewissheit aufgehoben werden«, oder: »die Eigenschaft, die jemand naturgemäß besitzt, kann ihm zu keiner Zeit eines Zweifels wegen abgesprochen werden.« Der juristische Grundsatz: » Der Besitz einer Sache begründet die Vermutung des Rechts für den Festhalter« wird im Talmud auf alle Rechte ausgedehnt, daher auch auf Schuldforderungen. Es galt als Regel: »Wer einen anderen aus seinem Besitz verdrängen oder von ihm etwas herausbringen will, der muss seinen Anspruch nachweisen«, ein Grundsatz, der auch im römischen Recht aufgestellt wurde. Ein zweiter in diesem Sinne geltender Rechtsgrundsatz war: »Ich setze das von anderen angefochtene Geld oder den Geldeswert in den Besitz seines bisherigen Herrn«, d. h. der alte Besitz wird als fortdauernd angesehen, wenn der Gegenanspruch nicht hinreichend erwiesen ist. Man nannte eine solche Präsumtion des Besitzes: die Präsumtion des alten oder früheren Zustandes: »chasaka kameitha«, bei der ein Festhalten des alten Zustandes aus Gründen der Wahrscheinlichkeit besteht. Von dieser Präsumtion des früheren Zustandes wird die des gegenwärtigen Zustandes, bekannt unter dem Namen »chasaka de haschta« oder deutlicher »chasaka de schaatha«, unterschieden. In Kollisionsfällen, wo diese jener gegenübersteht, ihr widerspricht und sie aufhebt, soll an jener die Präsumtion des alten Zustandes, so die Gründe ihres früheren Zustandes durch keinen früheren Zwischenfall aufgehoben wurden, festgehalten werden. Der Grund hiervon ist, weil der alte Zustand schon da war und der gegenwärtige erst eintrat, oder gemacht wurde. So wird bei erworbenen Sachen, an denen Fehler gefunden werden, von denen es zweifelhaft ist, ob dieselben schon vor dem Kaufe an den Gegenständen waren, angenommen, dass sie nach dem Kauf entstanden sind, so der primitive fehlerlose Zustand gewiss ist, denn der Zweifel kann die Gewissheit nicht aufheben. Ebenso soll bei einem Toten, über dessen Sterbezeit man in Zweifel ist, wo man für dieselbe zwei verschiedene Tage angibt, die spätere Zeitangabe angenommen werden, weil der frühere Zustand des Lebens eine Gewissheit ist, und die Gewissheit so lange als möglich festgehalten werden soll. Auf gleiche Weise wird bei einer Braut, wenn in Bezug auf die Verlustzeit ihrer Virginität Zweifel entstehen, angenommen, dass sie dieselbe bis in ihren Brautstand gehabt, weil der frühere Zustand, der Besitz derselben, eine Gewissheit war, der durch keinen Zweifel aufgehoben werden kann.
Eine zweite ebenso starke Präsumtionsart ist die, welche das Naturgesetz oder eine natürliche Erscheinung zu ihrer Basis hat. So wird aus der Erscheinung, dass eine Kuh ein Kalb säugt, angenommen, dass sie Mutter geworden, sodass das darauf von ihr geborene Kalb kein erstgeborenes sei. Auf gleiche Weise wird von einem Kinde, das von einer Frau ernährt und erzogen wurde und ihr anhängt, angenommen, es sei ihr Kind; ferner von zwei Kindern (einem Knaben und einem Mädchen), die beieinander geblieben, so zusammengewohnt und großgeworden, gehalten, dass sie Geschwister sind.
Die dritte Art von Präsumtion ist die aus Ungewissheit ihres Gegensatzes: So z. B. wenn ein Reiner und ein Unreiner zugleich eine Höhle betreten, von der es ungewiss ist, ob sie nicht verunreinigende Gegenstände in sich birgt, die sie verunreinigen. In ihr ist ein Wasser, in welchem der Unreine badet, um die gesetzliche Reinheit zu erhalten, so bleibt wegen des angegebenen zweifelhaften Zustandes der Höhle: der Reine rein und der Unreine unrein.
Die vierte Art Präsumtion ist endlich die durch verstandesmäßige Folgerung. Dieselbe hat die Erfahrung zu ihrer Grundlage; sie ist die Präsumtion des Dafürhaltens als, z. B.: »Es zahlt niemand seine Schuld vor abgelaufener Frist«; »Der Bote vollzieht seine Botschaft«; »Der Mensch hat nicht die Frechheit gegen seinen Gläubiger, ihm das Darlehen zu leugnen.« »Der Mensch setzt sich nicht wegen Geld einer Lebensgefahr aus«; »Der Mensch fordert nicht, wenn er keine Forderungen hat«; »Der Mensch will nicht, dass seine Frau vor dem Gericht beschämt werde«; »Die Frau hat nicht die Frechheit, dem Manne zuzurufen: Du hast mir Scheidung gegeben! « wenn er es nicht getan hat.; »Es wird kein Chaber eine Sache unvollendet abgeben.« »Kein Hausherr wird den Lohn seines Tagelöhners vorenthalten«; »Der Tagelöhner lässt nicht seinen Lohn bei seinem Herrn«; »Der Mensch sündigt nicht, wenn er nicht seinen Vorteil dabei hat«, usw. Es versteht sich, dass diese Präsumtionen die Verhältnisse der Zeit und des Ortes zu ihrer Voraussetzung haben und nach denselben auch beurteilt werden müssen. So vergessen die Gesetzeslehrer nicht, so sehr sie auch der chasaka einen großen Spielraum zustanden, an ihrer Beschränkung zu denken und Gesetze für dieselbe aufzustellen. Zu denselben nennen wir erst ihren Grundsatz: »Eine Besitzpräsumtion (chasaka), für deren Rechtmäßigkeit kein genügender Grund angegeben wird, hat keine Rechtskraft«, d. h. wenn der Inhaber eines Grundstückes auf die Frage nach dessen ursprünglichem Recht auf dasselbe — nicht mehr anzugeben weiß, als: »Weil bisher gegen diesen meinen Besitz niemand Einspruch erhoben hat!« Er verliert dadurch seine Eigentumsansprüche. Entgegnet er jedoch: »Das Grundstück habe ich ja von dir (oder von deinem Vater) gekauft«, oder sagt er: »ich habe es von dir als Geschenk erhalten«, so behält er sein vollständiges Eigentumsrecht.
Das zweite hierher gehörende Gesetz ist, dass der primitive Zustand einer Sache oder einer Person, auf den die Präsumtion sich gründet, kein solcher sein darf, der sich im Laufe der Zeit von selbst ändert, einer Änderung unterworfen ist. So hat im Ritualgesetz die Präsumtion des reinen Zustandes einer Frau, weil derselbe durch den monatlichen Abfluss Störung erleidet, keine Gesetzeskraft, um sich gegen den gegen sie erhobenen Zweifel zu behaupten. Man nennt eine solche Präsumtion eine veränderliche. Das dritte Gesetz bestimmt, dass der Zustand einer Sache oder einer Person, auf die sich die Präsumtion gründet, kein ideeller und angenommener sein darf, sondern wirklich existiert haben muss. Ferner ist man der Präsumtion, die auf eine Majorität von Erscheinungen sich stützt, abgeneigt. Ausdrücklich wurde die Besitzespräsumtion aufgehoben bei Geschäftsgenossen, Pächtern, Vormündern, Räubern, Brüdern u. a. m. Ferner wurde bestimmt, dass man sich auf keine Präsumtion, chasaka, verlasse, wo eine Nachforschung noch möglich sei. In Bezug auf die Geschichte des Gebrauchs der Präsumtion wollen mehrere Gesetzeslehrer ihre Existenz, als mit mehreren Schriftgesetzen mit-begriffen und angegeben, erkennen. Im Gesetze 3. M. 14. 38 heißt es: »dass der Priester nach der Besichtigung des Aussatzes eines Hauses hinausgehe und das Haus wegen seines Aussatzes verschließe.« Aber es könnte ja geschehen, dass das Maß des Aussatzes abgenommen habe, nachdem er das Haus verlassen hat, es muss also der gewisse Zustand angenommen, präsumiert, werden.