Talmud - Studium
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Studium, Belehrung. Nachbiblisches, umfangreiches Schrifttum der Juden mit seinen zwei Hauptteilen, der Mischna und der Gemara (s. weiter), in zwei großen veranstalteten Sammlungen, der jerusalemitischen und der babylonischen, von Lehren und Gesetzen des Rechts, der Ethik, des Kultus und des Dogmas, untermischt von ethno- und geographischen, geschichtlichen und naturwissenschaftlichten Angaben und Schrifterläuterungen der Volks- und Gesetzeslehrer der Juden in Palästina und Babylonien eines Zeitraums, angeblich von 1000 Jahren (500 v. und 500 n.).
I. Namen, Bedeutung, Teile, Traktate und Umfang. Zur Bezeichnung dieses Schrifttums werden drei Namen angegeben: 1. Talmud, Studium, deutlicher: palästinensischer Talmud; auch jerusalemitischer Talmud; ferner: babylonischer Talmud; 2. Ulphana, Lehre, eine Benennung, die selten gebraucht wird; 3. Gemara, lernen, deutlicher: Gemara der Abendländer (Palästinenser) und unsere Gemara, d. h. die babylonische Gemara. Von diesen Benennungen ist erstere neuhebräisch, die zweite ost-aramäisch und die dritte westaramäisch; alle drei bedeuten mehr oder weniger: »Belehrung«, »Studium«, »Gesetzesstudium« und »Gesetzeserörterung«, worunter man hier in ihrer engeren Fassung die zwei Sammlungen von Lehren, Erläuterungen, Erörterungen und weiteren Entwicklungen der in der Mischna niedergelegten Lehren, Gesetze und Anordnungen zu verstehen hat, die nach der Abfassung der Mischna von den Gesetzeslehrern, Amoraim, in den Hochschulen (Talmudschulen) Palästinas und Babyloniens vorgetragen wurden und den weiteren Ausbau des Gesetzes bildeten. In weiterer Bedeutung bezeichnen dieselben auch die Mischna, wie dieselbe in den Talmudausgaben als Text diesen späteren Erläuterungen und Gesetzesverhandlungen vorgesetzt ist. Es ist eine Eigenheit des Judentums, dass bei ihm das Gesetz in allen seinen Gestalten und Entwicklungen »Lehre« und »Belehrung« heißt. So bedeuten: »Thora«, »Ulphana« und »Gemara« als Bezeichnungen der Auslegung und des weiteren Ausbaus dieses Schriftgesetzes: »Lehre« und »Belehrung«. Die Gesetzesvollziehung soll eine Belehrung, eine Verinnerlichung, die sittliche Bildung des Menschen erzielen, aber keine Werkheiligkeit bilden und keinen Knechtessinn erzeugen. Von diesen zwei Sammlungen erstreckt sich erstere, die palästinensische, genannt: »Talmud Jeruschalmi«, wie sie uns heute vorliegt, nur auf die vier Abteilungen der Mischna: auf 1. die von den Saaten, seder seraim; 2. die von den Festzeiten, seder moed; 3. die von den Frauen, seder naschim und 4. die von den Schäden, seder nesikim. Dagegen fehlen in derselben die zur Mischnaordnung von den Weihungen, seder kodaschim, und zu der von der Reinheit, seder toharoth, von der sich nur der Traktat Nidda, die Absonderung, erhalten hat. Außer diesen fehlen noch zu den vier letzten Abschnitten des Traktats Sabbat, zu drei Abschnitten des Traktats Makkoth, zu den Traktaten Edajoth und Aboth. Dass derselbe früher vollständiger gewesen, beweisen die Zitate der Gelehrten in den 11. — 15. Jahrh. aus den fehlenden Teilen unserer Ausgaben der jerusalemitischen Sammlung. Doch auch in den noch vorhandenen Teilen sind manche Gesetzesteile als z. B. der vom Zivilrecht sehr lückenhaft. Dagegen bietet diese Sammlung eine große Ausbeute für Geschichte, Geographie, Bibelkunde, Sektenbildung und Archäologie überhaupt. Viel reichhaltiger ist die zweite Sammlung, der babylonische Talmud. Von den 61 Traktaten der sechs Ordnungen der Mischna existiert dieselbe zu 36 Traktaten, von denen die Mischnaordnung seder seraim (von den Saaten) und die von der Reinigung, toharoth, je nur einen Traktat hat, erstere den von den Segenssprüchen, Berachoth und letztere den von der Absonderung, Nidda. Zu den anderen vier Mischnaordnungen fehlen nur wenige Traktate als z. B. die von Aboth, Schekalim, Edajoth, Middoth, Kinnin und die Hälfte von Tamid. In unseren heutigen Talmudausgaben umfasst der babylonische Talmud zwölf starke Bände (in Folio oder in Großoktav), dagegen der jerusalemitische nur einen starken Band (Großfolio).
II. Wesen, Inhalt, Teile, Halacha, Agada, Prinzip, Vortrag, Sprache und Charakter. Der »Talmud« in seiner weiteren Bedeutung, das Schrifttum der Mischna und der Gemara, wie beide sich in unseren Talmudausgaben vorfinden, erstere als Text und letztere als Erläuterung und Ergänzung desselben, bildet das Produkt der Gedankenarbeit eines Jahrtausends, der Geisteserzeugnisse auf dem Boden des Judentums von 500 v. bis 500 n., der Durchbildung und Durchdringung aller damals bekannten Wissensfächer, der religiösen und profanen, in freiem Wort, freier Behandlung und freier Deutung des Schriftwortes, des Bodens der neuen Ideen, Lehren und Gesetze. Es treten auf den Schauplatz ohne Übertreibung über tausend Gelehrte aus den verschiedensten Zeiten und in den entlegensten Gegenden des von Juden bewohnten Palästinas, Babyloniens, Alexandriens, Roms u. a. m.; in Palästina unter der Herrschaft der Perser, der Mazedonier, der Ptolemäer, der Seleuciden, der Makkabäer, der Herodäer und der Römer; in Babylonien unter der Regierung der Perser, der Seleuciden, der Parther und der Neuperser. Es ist daher selbstverständlich, dass wir bei Beurteilung der Lehren, Gesetze und Angaben im Talmud auch den Ort, die Zeit und die Persönlichkeit ihrer Entstehung und Entwicklung mit in Betracht zu ziehen und das Zeitliche in demselben mit seinem jeweiligen Einfluss zu erwägen haben. Es kommen in ihm zur Erörterung, die Verhandlung und Feststellung des biblischen Schrifttums, die Übersetzung und Erklärung desselben und nach ihm die Dogmatik, der Kultus, die Ethik, das Recht, das Polizeiwesen, die Normen für die Staats- und Länderverwaltung, die Städteordnung u. a. m. Neben diesen werden Lehren aus der Heilkunde, Astronomie, Philosophie, Naturwissenschaft u. a. m. vorgetragen; ebenso Angaben zur Geographie und Geschichte, bald in engerem Sinn, bald in weiterer Fassung gemacht und besprochen. Der Vortrag wechselt in Ausdruck, Form und Ton nach seinem Gegenstand, den er behandelt. In der Gesetzesauslegung, den Gesetzesverhandlungen, dem Ausbau des Schriftgesetzes, ist derselbe der des tiefen Denkers, des scharfsinnigen Forschers, streng nach den Gesetzen der Logik, in ernsten Diskussionen von Schluss zu Schluss aufsteigend, von Resultat zu Resultat sich fort bewegend, bis zuletzt das Gewonnene summiert und übersichtlich dargestellt wird. Es ist dies der Vortrag der Halacha, der in engerem Gelehrtenkreis, meist von den Gesetzeslehrern vor ihren Jüngern oder vor ihren Kollegen, gehalten wurde. Anders waren die Vorträge fürs Volk, die der Schrifterklärung und der religiösen Erbauung, der Agada. Ihre Sprache war sanfter und weicher, viel herzlicher. Die Allegorie, die Fabel, die Sage, das Gleichnis, das Sprichwort u. a. m. fanden hier ihre geschickte Verwendung und Verwertung. »Halacha« und »Agada« bilden die zwei Hauptbestandteile des Talmuds. Die Halacha stellt die Gesetze fürs Leben fest, beschäftigt sich mehr mit der Praxis als mit der Theorie und hat den Ausbau des Schriftgesetzes nach den veränderten Zeiten und Verhältnissen zur Aufgabe; das Gesetz soll ein Gesetz des Lebens werden. Zur Erhaltung des Gesetzes hat sie eine Reihe von neuen Bestimmungen, die den Namen: »Zäune«, sejagoth; Vorbeugungsfälle, geseroth, führen; ebenso eine große Menge von Institutionen, Anordnungen, Tekanoth; ferner Gesetzeserleichterungen und Gesetzesumbildungen, Kuloth oder Kulim, die den veränderten Zeitverhältnissen vollständig Rechnung tragen. So sollen in ihr die zwei Faktoren, das Gesetz und das Leben, wo sie sich entgegenstehen, zum Ausgleich und zur fruchtbringenden Einheit gelangen, sich durchdringen und beleben. Wir haben in den Artikeln: »Halacha« und »Rabbinismus« ausführlich die Arbeit der Halacha in allen ihren Teilen geschichtlich besprochen und wollen dasselbe hier nicht wiederholen. Der zweite Bestandteil des Talmuds ist die Agada. Dieselbe ist das Produkt der freien Reflexion, die in ihren Aussprüchen und Lehren das religiöse Bewusstsein wecken und bilden will und in den Gesetzen die ihnen unterliegenden Ideen nachweist und dieselben in ihrer sittlich bildenden Bedeutsamkeit vollzogen wissen möchte. Ihre Schrifterklärungen, ihre Lehren und Mahnungen haben die religiös-sittliche Hebung des ganzen menschlichen Lebens in allen seinen Verhältnissen zum Ziel. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind: 1. Die Übersetzung und Erklärung des biblischen Schrifttums mit den hierher gehörenden Wissensfächern: Geographie, Geschichte, Grammatik, Genealogie, Polemik und Apologetik; 2. die Lehren der Ethik: die Moral-, Klugheits- und Weisheitssprüche, die Trost- und Ermahnungsreden in allen ihren Arten, die Sinn- und Denksprüche u. a. m.; 3. die Dogmatik und der Kultus als die Lehren von Gott, der Welt, dem Menschen, der Offenbarung, dem Gesetz, der Traditionen, dem Gottesdienst, der Gottesfurcht, der Vergeltung u. a. m.; 4. die Geheimlehre als die Theosophie, Dämonologie, die Lehren von der Schöpfung und der göttlichen Weltregierung, der Astrologie, den Wundern u. a. m.; 5. die Poesien mit allen ihren Dichtungsgattungen, dem Gebet, der Sage, der Parabel, der Fabel u. a. m.; 6. die Naturwissenschaften: Astronomie, Mathematik, Arzneikunde mit allen ihren Fächern: Anatomie usw., Geologie, Rechenkunst, Zoologie, Botanik u. a. m.; 7. die Philosophie und die Psychologie; 8. die Sprachen-, Sitten-, Länder- und Völkerkunde u. a. m.; 9. der Sozialismus: der Mensch, die Familie, das Volk, die Gleichheit, die Arbeit, das Gewerbe, das Handwerk, der Handel, die Nahrung, die Preise, das Geld u. a. m. und 10. die Religionskunde, das Sektenwesen u. a. m. Wir haben diese Gegenstände als Artikel einzeln in dieser und der ersten Abteilung dieses Werkes bearbeitet und gehen hier nicht weiter auf dieselben ein. Es bleibt uns hier nur noch das Nähere über den Talmud in seiner engeren Bedeutung, über den unter dem Namen »Gemara«, Lehre, Belehrung, in unseren Talmud-ausgaben der Mischna beigefügten Teil des Talmuds anzugeben. Der Talmud in dieser engeren Bedeutung enthält den nach der Abfassung der Mischna im 3. Jahrh. n. auf dieselbe gefolgten weiteren Ausbau des Gesetzes, die Arbeit der Gesetzeslehrer in Palästina und Babylonien vom 3. Jahrh. bis Ende des 5. Jahrhunderts, die »Amoraim«, »Vortragende«, »Erklärer« heißen. Mit der Vollendung der Mischna im 3. Jahrh. n. unter dem Patriarchen R. Juda I. war der Abschluss des Gesetzes bis ins 3. Jahrh. n.; alle Ereignisse und Verhältnisse, welche die Zeit bis dahin geschaffen und die eine gesetzliche Ordnung erheischt haben, fanden in diesem Gesetzeskodex der Mischna ihre endgültige Regelung. Aber die Zeit stand nicht still und brachte immer neue Fälle zur Entscheidung, die neue Gesetzesdiskussionen hervorriefen. Hierzu kam, dass die in der Mischna niedergelegten Gesetze und Anordnungen in ihrer Fassung und Ausdrucksweise den nachfolgenden Generationen, besonders denen in den babylonischen Ländern, fremd wurden und eine Erklärung nötig hatten. Diese Erklärung, Auslegung und weitere Ausführung der Gesetzesaussprüche der Mischna war das Werk der nachmischnischen Gesetzeslehrer, der Amoraim, und bildet den Inhalt der Gemara. Die Gemara ist somit, wie dies die Bedeutung ihres Namens: »Lehre, Belehrung, Ergänzung und Vollendung«, aussagt in ihrer Hauptsache eine Ergänzung und Vervollständigung der Mischna, der in ihr niedergelegten Gesetze und Lehren. Sie bringt die Quellen der Gesetze und Anordnungen der Mischna, als z. B. die Gesetzesverhandlungen aus der Mechilta, der Tosephta, der Sifra und Sifre und aus anderen Boraithas und zieht auch die entgegengesetzten Meinungen daselbst in Betracht, zitiert oft Aussprüche, die in der Mischna nicht vorkommen und beruft sich auf die Motive der Gesetze, um dadurch zu neuen Folgerungen und Entscheidungen zu gelangen. Oft werden unabhängig von der Mischna neue Gesetzesfragen aufgeworfen, neue Fälle erwogen, die auf Grund einer vernunftgemäßen logischen Beurteilung sebara, oder Vergleichung, hekesch, beantwortet werden. So werden Gesetze eruiert, welche die Mischna noch nicht hat; auch neue Institutionen entstehen, über welche wir auf den Artikel »Rabbinismus« verweisen. Summieren wir das hier Angegebene, so besteht die Gemara in ihrem halachischen Teil aus Aussprüchen, Gesetzesbestimmungen, Erläuterungen und Anordnungen, die mit der Mischna im Zusammenhang stehen oder die unabhängig von ihr erörtert werden und zur Entscheidung gelangen. Neben diesem halachischen Teil ist der ihrer Agada von nicht geringer Bedeutung, von der wir schon oben und ausführlich in dem Artikel »Agada« angegeben haben. Wir gelangen nun zu der besonders in unserer Zeit aufgeworfenen Frage: »Was ist der Talmud?« Unsere Antwort auf dieselbe lautet: Der Talmud ist ausschließlich weder ein Religionsbuch, noch ein Gesetzbuch, weder ein Buch der Geschichte oder der Länder- und Völkerkunde oder der Archäologie überhaupt, noch ein Buch der Philosophie, der Naturwissenschaft oder der Rechts-, Staats- und Sittenlehre, sondern ist ein Buch von allem diesen, ohne speziell nur eines von diesen Wissensfächern sein zu wollen. Wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, der Talmud mit seiner Mischna und Gemara ist eine große Enzyklopädie alles Wissenswerten, wie dasselbe unter den Juden dieser Jahrhunderte seine Pflege und Entwicklung gefunden; er bringt Lehren und Meinungen aus allen Zweigen der damaligen Wissenschaft, der religiösen und profanen, die nicht immer übereinstimmen und ein streng gegliedertes harmonisches Ganzes bilden, sondern die sich oft widersprechen und nach der Zeit und ihrem Ort beurteilt und behandelt werden müssen. Der Talmud will, wie sein Name »Belehrung« andeutet, nur lehren und belehren, ohne eine dogmatische Zwingburg sein oder eine rituelle Zwingherrschaft ausüben zu wollen. Wie der Pentateuch »Thora«, Lehre, Belehrung, heißt, nur lehren und belehren will, sein Gesetz nur als Thora »Lehre« und »Belehrung« hinstellt und nicht ausschließlich Religiöses, sondern neben ihm auch Geschichte, Völkerkunde, geographische Notizen u. a. m. enthält, so will der Talmud in strenger Anschließung an die Thora und in der konsequenten Fortführung ihrer Lehren und Gesetze nur ein Buch der Belehrung, des Studiums und der Forschung sein. Von seinen vielen Aussprüchen darüber nennen wir: »Mögen die einen verbieten, die anderen erlauben, es sind die Lehren dieser und jener Worte des lebendigen Gottes.« »Wende in ihr (der Thora) um, wende in ihr um, denn alles ist darin, in ihr schaue dich um, in ihr werde alt und grau; von ihr weiche nicht, denn es gibt kein besseres Maß als sie.«
III. Abfassung der beiden Talmude, ihre Zeit und weitere Geschichte.
a. Die Abfassung des Talmud Babli oder des babylonischen Talmuds. Die Abfassung des Talmuds unterscheidet sich von der anderer Werke, indem die Abfassung hier nur im Sinne eines Sammelns und Ordnens zu nehmen ist. Sein Inhalt war vorher schon da, existierte lange in den öffentlichen Lehrversammlungen sowie die Gesetzeserörterungen und Gesetzesverhandlungen in den größeren und engeren Gelehrtenkreisen waren die Stätten, wo derselbe seine Pflege, Erhaltung und Erweiterung gefunden. Da brachen in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts unter der Herrschaft Sapor II. auch in Babylonien, wie früher im 2. Jahrh. in Palästina, Religi onsverfolgungen gegen die Juden aus, die Lehrstätten wurden geschlossen und die geistige Arbeit erlitt gewaltsame Unterbrechung. In solch schweren Zeiten, wo vieles von den mündlich verhandelten, meist dem Gedächtnis überlieferten Lehren, Gesetzen und Anordnungen verlorengegangen sein mag, erwachte das Verlangen, diesen enorm angehäuften Traditionsstoff endlich gleich dem der Mischna gesammelt und geordnet zu sehen. Nach dem Wiedereintritt ruhiger Zeiten unter der Regierung Jesdigerds I. (400-421) machte man sich an die Verwirklichung dieses so sehr rege gewordenen Wunsches. Es war dies das Werk des vom Jahr. 375 bis 427 in Sura lehrenden Schuloberhauptes Rab Aschi. Sein langes Leben, seine große, geistige Begabung und die erfolgte Zeit des Friedens befähigten ihn, sich an die Sammlung und Ordnung der mündlich tradierten Lehren, Gesetze und Gesetzesverhandlungen als der Erörterung und Erläuterung und Ergänzung der Mischna zu machen. Wir unterscheiden in dieser großen Arbeit drei Perioden: 1. die des Sammelns; 2. die des Ordnens und Redigierens und 3. die der Ergänzung und der Vervollständigung. Zweimal wurden sämtliche mündlich tradierten Lehren, Gesetze, Erörterungen und Diskussionen, wie dieselben als Erläuterung und Vervollständigung der in der Mischna niedergelegten Gesetze in den Hochschulen Babyloniens vorgetragen und behandelt wurden, in den Gelehrtenversammlungen der Monate Nissan und Tischri gesammelt, diskutiert, geordnet und redigiert. Erst wurde der so sehr zerstreute Stoff gesammelt, geordnet und in eine gewisse Fassung gebracht. Dann folgte die Revision und Redaktion der veranstalteten Sammlung und Ordnung. Die erste Sammlung wird unter dem Namen »erste oder frühere Wiederholung«, genannt und als unvollständig und unkorrekt bezeichnet, dagegen ist die zweite als die rechtsgültige schon im Talmud anerkannt. Doch muss der große Meister an dem Riesenbau seines Werkes »Talmud«, wie dies nicht anders möglich war, noch manche Lücken und Unvollkommenheiten entdeckt haben, denn noch in seinen letzten Lebensjahren, erzählt man, hatte er den Wunsch, alles nochmals einer Revision zu unterwerfen. Was ihm nicht vergönnt gewesen, haben seine Nachfolger vollführt. Mare-mar, R. Jdi b. Abin, R. Nachmann ben Huna, Mar, der Sohn Rab Aschis, Rabba Thuspha und Rabina (488 - 500) und endlich R. Jose (471 — 520), das Schuloberhaupt von Pumbaditha waren die letzten Amoraim, durch welche die Redaktion des Talmuds zum Abschluss gelangte und die Gestalt eines sorgfältig redigierten Ganzen erhielt. Ob diese Sammlung, Abfassung und Redaktion des Talmud, wie dieselbe von Rab Aschi begonnen und von Rab Jose beendet wurde, gleich schriftlich geschehen, sodass der Talmud bald niedergeschrieben wurde, ist eine Frage, die auch hier, wie schon in Bezug auf die Abfassung der Mischna aufgeworfen wurde und zu geteilten Meinungen führte. Bekanntlich werden Aussprüche von den Lehrern des 3. Jahrh., von R. Chija, R. Jochanan, R. Simon b. Lackisch u. a. m. gegen das Niederschreiben von Halachoths zitiert. Wir haben uns in dem Artikel »Mischna«, wo wir diese Verbotsaussprüche gesammelt und besprochen haben, für die Annahme einer schriftlichen Abfassung der Mischna erklärt und zwar aus dem Grunde, weil selbst die Autoren dieser Verbotsaussprüche schriftlich Halachoths und Agadoths verzeichneten und dieselben zu ihren Vorträgen benutzten und zum Lernen aus Büchern nachdrucksvoll ermahnten. Das Verbot, die mündliche Lehre niederzuschreiben, wurde, wo es Not tat, nicht beachtet. Wir wiederholen unsere daselbst ausgesprochene Meinung auch in Bezug auf die Abfassung des Talmuds und behaupten, dass dieselbe unter der nochmaligen Revision der oben genannten letzten Amoräer, besonders des Rabina und R. Jose, nunmehr schriftlich vorgenommen wurde. Die Notwendigkeit drängte, sich über jedes Bedenken eines vorhandenen Gegenverbots hinwegzusetzen. Bekanntlich brachen wieder unter Jesdigerds III. im Jahre 436 Religionsverfolgungen gegen die Juden aus, die nach seinem Tod, als Chokatwarda zur Herrschaft gelangte, etwas nachließen, aber sich desto heftiger unter seinem Nachfolger Phiruz wiederholten. Die Abhaltung von Lehrversammlungen wurde verboten und die Jugend den Eltern entrissen und für den Magierkultus erzogen. Wie die Erinnerung an die hadrianischen Verfolgungen und die Furcht vor Wiederholung derselben den Patriarchen R. Juda I. zur Sammlung und schriftlichen Abfassung der Mischna bewogen haben, so unternahmen auch diese letzten Amoräer, in Betracht der in ihren Tagen sich erneuernden Religionsverfolgungen, die unter R. Aschi veranstalteten Talmudsammlungen nochmals zu ordnen und niederzuschreiben. Aber die vollendete Gestalt, wie dieselbe uns heute vorliegt, verdankt der Talmud den auf die Amoraim gefolgten Saburäer (500 — 550). Dieselben, welche die endgültige Entscheidung in der Feststellung der religiösen und richterlichen Praxis trafen, legten die letzte Hand an diese Sammlung und vervollständigten sie durch mehrere Zusätze. Ihre Tätigkeit hier hat einige Ähnlichkeit mit der der Sopherim bei der Feststellung der biblischen Schriften. Wie diese, so traten auch sie nicht selbstschöpferisch auf, sondern arbeiteten an der Feststellung des Textes, an der Einteilung und Aneinanderreihung der Traktate und ihrer Abschnitte u. a. m. Die letzten Saburäer waren Giza und Simuna. Ersterer starb im J. 541. Die von ihnen gemachten Zusätze waren erst als erklärende, ergänzende Bemerkungen, Erläuterungen und Dezisionen am Rand geschrieben und wurden später in den Text aufgenommen. Dergleichen Zusätze entstanden noch später von den Gaonen.
b. Die Abfassung des jerusalemitischen Talmuds. Die Angaben über die Abfassung des jerusalemitischen Talmuds weichen in neuerer Zeit von denen der älteren Zeit bedeutend ab. Maimonides nennt den Lehrer R. Jochanan (im 3. Jahrh. n.) als den Sammler und Abfasser desselben. Dagegen wird von den Neueren starkes Bedenken erhoben, da im Jeruschalmi Lehrer genannt werden, die im 5. Jahrh. zur Zeit Rab Aschis gelebt haben; ferner wird im babylonischen Talmud keine Erwähnung des jerusalemitischen Talmuds gemacht und endlich bringt letzterer Bräuche, minhagim, und Gesetze, die ersterer noch nicht kennt. Die Abfassung des Jeruschalmi kann daher erst nach der des babylonischen Talmuds, etwa im 7. Jahrhundert erfolgt sein. Wie die Abfassung der Mischna auch die Tätigkeit zur Abfassung der halachischen Schriften als z. B. des Sifra, des Sifre, der Tosephta, der Mechilta u. a. m. hervorgerufen hat, so bewirkte die Sammlung und Abschließung des babylonischen Talmuds die des jerusalemitischen. Mehreres über denselben verweisen wir auf die vortrefflichen Arbeiten von Z. Frankel, »Meba Jeruschalmi« und in Geigers Monatsschrift 1870. Über den Inhalt der Talmuden vergleiche die Artikel: »Halacha«, »Agada« u. a. m. Zur Literatur der Talmudausgaben und der Talmudmanuskripte gehören die vortrefflichen Arbeiten Zunzens in Geigers Festschrift B. V., Lebrechts in seinen »Wissenschaftlichen Blätter«, Berlin 1862 und die des Rabbinowitz in seinen »Dikduke Sopherim«, wozu in Brülls Jahrbuch Jahrg. IV. Frankls Monatsschrift 1857 und Geigers M. 1844 nachzulesen wären. Übersetzungen der Mischna und des Talmuds gibt es in lateinischer, arabischer, englischer, französischer und deutscher Sprache. Von anderen Hilfsquellen zum Studium des Talmuds empfehlen wir: Levy Wörterbuch zu den Talmuden und Midra-schim; vorzüglich: Kohut, Aruch haschalom, Lexikon zum Targum, Talmud und Midraschim, Wien 1882.